Russellsche Antinomie: Unterschied zwischen den Versionen

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==Informelle Beschreibung der Russelschen Antinomie==
==Informelle Beschreibung der Russellschen Antinomie==


Der von [[Bernard Bolzano|Bolzano]], [[Gottlob Frege|Frege]], [[Georg Cantor|Cantor]] und anderen geprägte „naive“ {{Menge}}begriff  führt zu einer [[Antinomie]], d.h. auf ein logisches [[Paradoxon]], das [[Bertrand Russell]] und [[Ernst Zermelo]] ca. [[1901]] unabhängig voneinander im Axiomensystem von Frege<ref>{{Quelle|Frege (1893)}}</ref> entdeckt haben.<ref>{{Quelle|Ebbinghaus (2003)}}</ref><ref>{{Quelle|Irvine, Deutsch (2014)}}</ref>  
Der von [[Bernard Bolzano|Bolzano]], [[Gottlob Frege|Frege]], [[Richard Dedekind|Dedekind]] und anderen geprägte „naive“ {{Menge}}begriff  führt zu einer [[Antinomie]].  
Dieses logische [[Paradoxon]] wurde um [[1901]] unabhängig voneinander von
[[Bertrand Russell]] und [[Ernst Zermelo]] im Axiomensystem von Frege<ref>{{Quelle|Frege (1893)}}</ref> entdeckt.<ref>{{Quelle|Ebbinghaus (2015)}}</ref><ref>{{Quelle|Irvine, Deutsch (2014)}}</ref>  
Russell schrieb seine Entdeckung am 16. Juni [[1902]] an Frege.<ref name="Brief an Frege">{{Quelle|Gabriel et al. (1980)}}, S. 59f, Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902</ref>
Russell schrieb seine Entdeckung am 16. Juni [[1902]] an Frege.<ref name="Brief an Frege">{{Quelle|Gabriel et al. (1980)}}, S. 59f, Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902</ref>


Russell definiert die '''Russell-Menge''' – wie diese Menge heute genannt wird – als die '''Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten''':
Russell definiert die '''Russellmenge''' – wie diese Menge heute genannt wird – als die '''Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten''':


{{Quote|Ebenso giebt es keine Klasse (als Ganzes) derjenigen  
{{Quote|Ebenso giebt es keine Klasse (als Ganzes) derjenigen  
Klassen die als Ganze sich selber nicht angehören.<ref name="Brief an Frege"/>  
Klassen die als Ganze sich selber nicht angehören.<ref name="Brief an Frege"/>  


(Anm.: Russell verwendet die Begriffe „{{Klasse}}“ und „{{Menge}}“ noch synonymisch.
<em>(Anm.: Russell verwendet die Begriffe „{{Klasse}}“ und „{{Menge}}“ noch synonymisch.
Heute wird dagegen – wegen der Russellschen Antinomie – streng zwischen beiden Begriffen unterschieden.)}}  
Heute wird dagegen – wegen der Russellschen Antinomie – {{iAllg}} streng zwischen beiden Begriffen unterschieden.)</em>}}  


Die Russell-Menge ist gemäß Freges Axiomensystem eine Menge und kann außerdem Element von anderen Mengen sein – evtl. sogar von sich selbst!
Die Russellmenge ist gemäß Freges Axiomensystem eine Menge und kann außerdem Element von anderen Mengen sein – evtl. sogar von sich selbst!


Und so stellt Russell die Frage, ob sich die Russell-Menge selbst enthält. Diese Frage führt aber zu einem Widerspruch:  
Und so stellt Russell die Frage, ob sich die Russellmenge selbst enthält. Diese Frage führt aber zu einem Widerspruch:  


'''Die Russell-Menge enthält sich''' – laut Definition der Russell-Menge – '''genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.''' Russell bemerkt dazu:
'''Die Russellmenge enthält sich''' – laut Definition der Russellmenge – '''genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.''' Russell bemerkt dazu:


{{Quote|Daraus schliesse ich dass unter gewissen Umständen  
{{Quote|Daraus schliesse ich dass unter gewissen Umständen  
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Dieses Paradoxon war der Beginn der [[Grundlagenkrise der Mathematik]]. Schon Frege war  
Dieses Paradoxon war der Beginn der [[Grundlagenkrise der Mathematik]]. Schon Frege war  
„auf's Höchste überrascht und [...] bestürzt“.<ref name="Brief an Frege">{{Quelle|Gabriel et al. (1980)}}, S. 60f, Brief von Frege an Russell vom 22. Juni 1902</ref> Im Nachwort zum zweiten Band seiner „Grundgesetze der Arithmetik“<ref>{{Quelle|Frege (1903)}}, S. 253</ref>, der 1903 erschienen ist, schreibt Frege:
„auf's Höchste überrascht und [...] bestürzt“.<ref name="Brief an Frege"/> Im Nachwort zum zweiten Band seiner „Grundgesetze der Arithmetik“<ref>{{Quelle|Frege (1903)}}, S. 253</ref>, der 1903 erschienen ist, schreibt Frege:


{{Quote|Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als dass ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte. Es handelt sich um mein Grundgesetz (V). Ich habe mir nie verhehlt, dass es nicht so einleuchtend ist, wie die andern, und wie es eigentlich von einem logischen Gesetze verlangt werden muss. Und so habe ich denn auch im Vorworte zum ersten Bande S. VII auf diese Schwäche hingewiesen. Ich hätte gerne auf diese Grundlage verzichtet, wenn ich irgendeinen Ersatz dafür gekannt hätte. Und noch jetzt sehe ich nicht ein, wie die Arithmetik wissenschaftlich begründet werden könne, wie die Zahlen als logische Gegenstände gefasst und in die Betrachtung eingeführt werden können, wenn es nicht — bedingungsweise wenigstens — erlaubt ist, von einem Begriffe zu seinem Umfange überzugehn. Darf ich immer von dem Umfange eines Begriffes, von einer Klasse sprechen? Und wenn nicht, woran erkennt man die Ausnahmefälle?}}
{{Quote|Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als dass ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte. Es handelt sich um mein Grundgesetz (V). Ich habe mir nie verhehlt, dass es nicht so einleuchtend ist, wie die andern, und wie es eigentlich von einem logischen Gesetze verlangt werden muss. Und so habe ich denn auch im Vorworte zum ersten Bande S. VII auf diese Schwäche hingewiesen. Ich hätte gerne auf diese Grundlage verzichtet, wenn ich irgendeinen Ersatz dafür gekannt hätte. Und noch jetzt sehe ich nicht ein, wie die Arithmetik wissenschaftlich begründet werden könne, wie die Zahlen als logische Gegenstände gefasst und in die Betrachtung eingeführt werden können, wenn es nicht — bedingungsweise wenigstens — erlaubt ist, von einem Begriffe zu seinem Umfange überzugehn. Darf ich immer von dem Umfange eines Begriffes, von einer Klasse sprechen? Und wenn nicht, woran erkennt man die Ausnahmefälle?}}
Auf der von ihm angesprochenen Seite VII seines ersten Bandes schreibt Frege tatsächlich, dass ein „Streit“  um sein Grundgesetz V „entbrennen“ kann:<ref>[[Frege (1893)]], S. VII</ref>
{{Quote|Ein Streit kann hierbei, soviel ich sehe, nur um mein Grund­gesetz der Werthverläufe (V) entbrennen, das von den Logikern vielleicht noch nicht eigens ausgesprochen ist, obwohl man danach denkt, z.B. wenn man von Begriffsumfängen redet. Ich halte es für rein logisch. Jedenfalls ist hiermit die Stelle bezeichnet, wo die Entscheidung fallen muss.}}


'''Weitere Beispiele für die Russellsche Antinomie'''  
'''Weitere Beispiele für die Russellsche Antinomie'''  
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===Definition der „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“===
===Definition der „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“===
Zunächst zeigt man, dass die „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“ auch ein  
Zunächst zeigt man, dass die „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“ auch ein  
Objekt unserer Anschauung ist und damit – nach Cantor – Element einer beliebigen Menge sein kann.
Objekt unserer Anschauung ist und damit Element einer beliebigen Menge sein kann.


Es sei $U$ die Gesamtheit aller Objekte unserer Anschauung und unseres Denkens ($U$ = '''U'''niversum).
Es sei $U$ ein [[Universum (Mathematik)|Universum]], das die Gesamtheit „aller Objekte unserer Anschauung und unseres Denkens“ umfasse.


Ein [[Logik|logischer Ausdruck]] $A(x)$ beschreibt bestimmte Eigenschaften von Objekten aus $U$,
Ein [[Logik|logischer Ausdruck]] $A(x)$ beschreibt bestimmte Eigenschaften von Objekten aus $U$,
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'''Beispiele'''
'''Beispiele'''


* $S_{HSA} := \{x:x \mbox{ ist derzeit Student an der Hochschule Augburg}\}$ ist die Menge aller derzeit an der {{HSA}} immatrikulierten Studenten (diese Menge ändert sich im Laufe der Zeit).
* $S_{HSA} := \{x:x \mbox{ ist derzeit Student an der Hochschule Augsburg}\}$ ist die Menge aller derzeit an der {{HSA}} immatrikulierten Studenten (diese Menge ändert sich im Laufe der Zeit).
* $P = \{x:x \mbox{ ist eine Primzahl}\}$ ist die Menge aller Primzahlen; $7 \in P$, $8 \not\in P$.
* $P = \{x:x \mbox{ ist eine Primzahl}\}$ ist die Menge aller Primzahlen; $7 \in P$, $8 \not\in P$.
* $\mathbb{Q} := \{x:x \mbox{ ist eine rationale Zahl}\}$ ist die Menge der rationalen Zahlen; $2/3  \in \mathbb{Q}, \pi \not\in \mathbb{Q}$.
* $\mathbb{Q} := \{x:x \mbox{ ist eine rationale Zahl}\}$ ist die Menge der rationalen Zahlen; $2/3  \in \mathbb{Q}, \pi \not\in \mathbb{Q}$.
* $\mathcal{V} := \{x:x \mbox{ ist eine Menge}\}$ ist die Menge aller Mengen, $S_{HSA} \in \mathcal{V}, P \in \mathcal{V}$, $\mathbb{Q} \in \mathcal{V}$, $\mathcal{V} \in \mathcal{V}$.
* $\mathcal{V} := \{x:x \mbox{ ist eine Menge}\}$ sei die Menge aller Mengen; $S_{HSA} \in \mathcal{V}, P \in \mathcal{V}$, $\mathbb{Q} \in \mathcal{V}$, $\mathcal{V} \in \mathcal{V}$ (sofern $\mathcal{V}$ tatsächlich eine Menge wäre).
 
===Mengen, die sich selbst enthalten===


Jede Menge $\{x:A(x)\}$ ist also „ein Objekt unserer Anschauung“ und damit ein Objekt aus unserem Universum $U$.  
Jede Menge $\{x:A(x)\}$ ist „ein Objekt unserer Anschauung“ und damit ein Objekt aus unserem [[Universum (Mathematik)|Universum]] $U$.  
Dabei gibt es auch Mengen, die die etwas ungewöhnliche Eigenschaft haben, sich selbst zu enthalten.
Dabei gibt es auch Mengen, die die etwas ungewöhnliche Eigenschaft haben, sich selbst zu enthalten.
Zum Beispiel enthält sich die Menge
Zum Beispiel enthält sich die Allklasse $\mathcal{V}$ selbst, zumindest, wenn $\mathcal{V}$ die Eigenschaft hätte, eine Menge zu sein.
$\mathcal{V}$ selbst, da $\mathcal{V}$ – nach Cantor – die Eigenschaft hat, eine Menge zu sein.
 
===Mengen, die sich selbst enthalten===


Man beachte, dass Mengen, die sich selbst enthalten, nicht so selten und exotisch sind, wie
Man beachte, dass Mengen, die sich selbst enthalten, nicht so selten und exotisch sind, wie
man vermuten könnte. In der Informatik kommen sie sogar recht häufig vor: Immer,
man vermuten könnte. In der Informatik kommen sie sogar recht häufig vor: Immer,
wenn man Objekte so miteinander verkettet, dass ein geschlossener Weg entsteht, hat man im
wenn man Objekte so miteinander verkettet, dass ein geschlossener Pfad entsteht, hat man im
Prinzip eine Menge definiert, die sich selbst enthält.
Prinzip eine Menge definiert, die sich selbst enthält.


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Es gilt also:
Es gilt also:
<source lang="javascript">
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tuple == tupel.c == tupel.c.c == tupel.c.c.c == ... ==  
tuple == tuple.c == tuple.c.c == tuple.c.c.c == ... ==  
{a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: ...}}}}
{a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: ... }}}
</source>  
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Das heißt, man kann die obige [[Aussage (Logik)|Aussage]] auch folgendermaßen formulieren:
Das heißt, man kann die obige [[Aussage (Logik)|Aussage]] auch folgendermaßen formulieren:


<div class="formula">Die Menge <code>tupel</code> enthält sich selbst.</div>
<div class="formula">Die Menge <code>tuple</code> enthält sich selbst.</div>


Datenstrukturen, die die Bildung von Zyklen erlauben, kommen in der Informatik recht häufig vor:
Datenstrukturen, die die Bildung von Zyklen erlauben, kommen in der Informatik recht häufig vor:
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ergibt sich sofort eine Frage: Kann man ''alle'' Mengen, die sich nicht selbst enthalten, in einer Menge zusammenfassen?  
ergibt sich sofort eine Frage: Kann man ''alle'' Mengen, die sich nicht selbst enthalten, in einer Menge zusammenfassen?  


$\mathcal R := \{x:x \mbox{ ist eine Menge} \wedge x \notin x\}$ ist die so genannte Russell-Menge. Sie enthält  
$\mathcal R := \{x:x \mbox{ ist eine Menge} \wedge x \notin x\}$ ist die so genannte Russellmenge. Sie enthält  
– laut Definition – alle Mengen, die sich nicht selbst enthalten.  
– laut Definition – alle Mengen, die sich nicht selbst enthalten.  


Es gilt z.B. $\{x:x \mbox{ ist eine Primzahl}\} \in \mathcal R$ und
Es gilt z.B. $\{x:x \mbox{ ist eine Primzahl}\} \in \mathcal R$ und
$\mathbb{Q} \in \mathcal R$, aber ${\rm Sonne} \notin \mathcal R$ (Sonne ist keine Menge) und $\mathcal{V} \notin \mathcal R$
$\mathbb{Q} \in \mathcal R$, aber ${\rm Sonne} \notin \mathcal R$ (Sonne ist keine Menge) und $\mathcal{V} \notin \mathcal R$
(Die Allklasse $\mathcal{V}$ könnte zwar – {{zB}} wenn man Cantors Definition naiv interpretiert eine Menge sein, würde sich in diesem Fall  
(Die Allklasse $\mathcal{V}$ könnte zwar theoretisch eine Menge sein
aber selbst enthalten, da sie per Definitionem alle Mengen enthält).
sie ist es aber nicht, wie Cantor bereits 1899 gezeigt hat<ref name="Brief Cantor 2">Brief von Cantor an Dedekind vom 30. August 1899, {{Quelle|Zermelo (1932)}}, S. 448</ref>–, würde sich in diesem Fall aber selbst enthalten, da sie per Definitionem alle Mengen enthält).
 
Die Frage ist, ob sich die Russellmenge selbst enthält oder nicht. Gemäß Definition enthält sich die Russellmenge genau dann selbst,
wenn sie eine Menge ist und sich nicht selbst enthält:


Die Frage ist, ob sich die Russell-Menge selbst enthält oder nicht. Aber diese Frage kann nicht beantwortet werden,
da sich die Russell-Menge genau dann selbst enthält, wenn sie eine Menge ist und sich nicht selbst enthält:
$\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist ein Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R$.
$\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist ein Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R$.


Nach der Cantorschen Definition ist die Russell-Menge eine Menge. Und damit ergibt sich sofort der erwähnte Widerspruch:  
Wenn man die berühmte Cantorsche Definition von 1895
<div class="quote">Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung <math>M</math> von ''bestimmten'' wohlunterscheidbaren Objecten <math>m</math> unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die [[Element]]e von <math>M</math> genannt werden) zu einem Ganzen.<ref>{{Quelle|Cantor (1895)}}</ref>
</div>
naiv interpretiert (was Cantor selbst allerdings nicht tat; vgl. Kapitel [[Menge#Cantors_Definitionen_und_Antinomien|Cantors Definitionen und Antinomien]] im Artikel {{Menge}}), ist die Russellmenge ein ''wohlunterscheidbares Object unseres Denkens'' und damit eine Menge. Und damit ergibt sich sofort der erwähnte Widerspruch:  
 
$\mathcal{R} \in \mathcal{R} \Leftrightarrow  \mathcal{R} \notin \mathcal{R}$.
$\mathcal{R} \in \mathcal{R} \Leftrightarrow  \mathcal{R} \notin \mathcal{R}$.


In Worten: Die Russell-Menge enthält sich genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.
In Worten: Die Russellmenge enthält sich genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.


===Vermeidung des Russell-Paradoxons===
===Vermeidung des Russell-Paradoxons===
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In beiden Fällen kann eine Menge $n$-ter Stufe kann nur Mengen aus Stufen $m$ kleiner $n$ enthalten.  
In beiden Fällen kann eine Menge $n$-ter Stufe kann nur Mengen aus Stufen $m$ kleiner $n$ enthalten.  
Damit gibt es keine Mengen, die sich selbst enthalten (weil ja jede Menge derselben Stufe angehört wie sie selbst).  
Damit gibt es keine Mengen, die sich selbst enthalten (weil ja jede Menge derselben Stufe angehört wie sie selbst).  
Es gibt also keine „Menge aller Mengen“ und auch keine „Russell-Menge“.
Es gibt also keine „Menge aller Mengen“ und auch keine „Russellmenge“.


==== {{Klasse}}n ====
==== {{Klasse}}n ====
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Man nennt eine „Zusammenfassung von bestimmten Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ zunächst einmal {{Klasse}} und nicht {{Menge}}.  
Man nennt eine „Zusammenfassung von bestimmten Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ zunächst einmal {{Klasse}} und nicht {{Menge}}.  
(Man beachte, dass zu Zeiten von Cantor, Russell und Co, die Begriffe ''Klasse'' und ''Menge'' noch synonymisch benutzt wurden.)
(Man beachte, dass zu Zeiten von Cantor, Russell und Co, die Begriffe ''Klasse'' und ''Menge'' noch synonymisch benutzt wurden.)
Der wichtigste Untersched zu Cantors Definition ist, dass man nicht von jeder Klasse fordert,  
Der wichtigste Unterschied zu Cantors Definition ist, dass man nicht von jeder Klasse fordert,  
ebenfalls ein solches „Objekt unserer Anschauung und unseres Denkens“ zu sein, das in irgendwelchen Zusammenfassungen enthalten sein kann.  
ebenfalls ein solches „Objekt unserer Anschauung und unseres Denkens“ zu sein, das in irgendwelchen Zusammenfassungen enthalten sein kann.  
Das heißt, es kann Klassen geben, die kein Element irgendeiner anderen Klasse sind, zum Beispiel, weil sie einfach „zu groß“ sind.
Das heißt, es kann Klassen geben, die kein Element irgendeiner anderen Klasse sind, zum Beispiel, weil sie einfach „zu groß“ sind.
Daher kann man zwei spezielle Arten von Klassen unterscheiden: die so genannten {{Menge}}n und die so genannten {{Unmenge}}n oder [[echte Klasse|echten Klassen]].
Im Gegensatz zu Cantors Zeiten unterscheidet man daher heute strikt zwischen „Mengen“ und „echten Klassen“ :
Im Gegensatz zu Cantors Zeiten muss man heute also strikt zwischen „Mengen“
und „echten Klassen“ unterscheiden:


Eine '''Klasse''' heißt '''Menge''', genau dann, wenn sie Element einer anderen Klasse ist.
Eine '''Klasse''' heißt '''Menge''', genau dann, wenn sie Element mindestens einer beliebigen Klasse ist.


Anderenfalls heißt sie '''echte Klasse''' oder '''Unmenge'''.
Anderenfalls heißt sie '''echte Klasse''' oder '''Unmenge'''.


In der kumulativen Typhierarchie ist eine Menge ein Element, das auf irgendeiner Stufe (und damit ebenfalls auf allen darüberliegnde Stufen) liegt.
In der kumulativen Typhierarchie ist eine Menge ein Element, das auf irgendeiner Stufe (und damit ebenfalls auf allen darüber liegende Stufen) liegt.
Die erste Stufe, auf der eine Menge zu liegen kommt, heißt ''definierende Stufe''.   
Die erste Stufe, auf der eine Menge zu liegen kommt, heißt ''definierende Stufe''.   
Eine '''Unmenge''' ist dagegen eine '''Klasse''', die kein Element einer anderen Klasse ist und für die es daher auch keine definierende Stufe gibt.  
Eine '''Unmenge''' ist dagegen eine '''Klasse''', die kein Element einer anderen Klasse ist und für die es daher auch keine definierende Stufe gibt.  
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Das heißt, für jedes Element einer Unmenge gibt es beliebig viele weitere Elemente der Unmenge, deren definierenden Stufen oberhalb der definierenden Stufe dieses Elements liegt.
Das heißt, für jedes Element einer Unmenge gibt es beliebig viele weitere Elemente der Unmenge, deren definierenden Stufen oberhalb der definierenden Stufe dieses Elements liegt.


Beipiele für Unmengen sind die [[Allklasse]], d.h. die Klasse, die alle Mengen enthält (aber nicht alle Klassen!),
Beispiele für Unmengen sind die [[Allklasse]], d.h. die Klasse, die alle Mengen enthält (aber nicht alle Klassen!),
sowie die [[Russell-Klasse]], die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten.
sowie die [[Russellklasse]], die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten.
Die '''Russell-Klasse''' enthält sich nicht selbst, da sie die Bedingung  
Die '''Russellklasse''' enthält sich nicht selbst, da sie die Bedingung  
„$\mathcal{R}$ ist eine Menge“ nicht erfüllen kann (sonst ergäbe sich sofort die Russellsche Antinomie):
„$\mathcal{R}$ ist eine Menge“ nicht erfüllen kann (sonst ergäbe sich sofort die Russellsche Antinomie):


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$\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R$.
$\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R$.


Also gilt $\mathcal R$ ist keine Menge, sondern eine Unmenge und damit gilt (beweisbar!) $\mathcal R \notin \mathcal R$, da eine Ummenge überhaupt kein Element irgendeiner Menge ist.  
Also gilt $\mathcal R$ ist keine Menge, sondern eine Unmenge und damit gilt (beweisbar!) $\mathcal R \notin \mathcal R$, da eine Unmenge überhaupt kein Element irgendeiner Menge ist.  


Es gibt noch Unmengen von weiteren Unmengen. :-)  
Es gibt noch Unmengen von weiteren Unmengen. :-)  

Version vom 22. Januar 2019, 17:30 Uhr

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Informelle Beschreibung der Russellschen Antinomie

Der von Bolzano, Frege, Dedekind und anderen geprägte „naive“ Mengebegriff führt zu einer Antinomie. Dieses logische Paradoxon wurde um 1901 unabhängig voneinander von Bertrand Russell und Ernst Zermelo im Axiomensystem von Frege[1] entdeckt.[2][3] Russell schrieb seine Entdeckung am 16. Juni 1902 an Frege.[4]

Russell definiert die Russellmenge – wie diese Menge heute genannt wird – als die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten:

Ebenso giebt es keine Klasse (als Ganzes) derjenigen Klassen die als Ganze sich selber nicht angehören.[4]

(Anm.: Russell verwendet die Begriffe „Klasse“ und „Menge“ noch synonymisch. Heute wird dagegen – wegen der Russellschen Antinomie – i. Allg. streng zwischen beiden Begriffen unterschieden.)

Die Russellmenge ist gemäß Freges Axiomensystem eine Menge und kann außerdem Element von anderen Mengen sein – evtl. sogar von sich selbst!

Und so stellt Russell die Frage, ob sich die Russellmenge selbst enthält. Diese Frage führt aber zu einem Widerspruch:

Die Russellmenge enthält sich – laut Definition der Russellmenge – genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält. Russell bemerkt dazu:

Daraus schliesse ich dass unter gewissen Umständen eine definierbare Menge kein Ganzes bildet.[4]

Dieses Paradoxon war der Beginn der Grundlagenkrise der Mathematik. Schon Frege war „auf's Höchste überrascht und [...] bestürzt“.[4] Im Nachwort zum zweiten Band seiner „Grundgesetze der Arithmetik“[5], der 1903 erschienen ist, schreibt Frege:

Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als dass ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte. Es handelt sich um mein Grundgesetz (V). Ich habe mir nie verhehlt, dass es nicht so einleuchtend ist, wie die andern, und wie es eigentlich von einem logischen Gesetze verlangt werden muss. Und so habe ich denn auch im Vorworte zum ersten Bande S. VII auf diese Schwäche hingewiesen. Ich hätte gerne auf diese Grundlage verzichtet, wenn ich irgendeinen Ersatz dafür gekannt hätte. Und noch jetzt sehe ich nicht ein, wie die Arithmetik wissenschaftlich begründet werden könne, wie die Zahlen als logische Gegenstände gefasst und in die Betrachtung eingeführt werden können, wenn es nicht — bedingungsweise wenigstens — erlaubt ist, von einem Begriffe zu seinem Umfange überzugehn. Darf ich immer von dem Umfange eines Begriffes, von einer Klasse sprechen? Und wenn nicht, woran erkennt man die Ausnahmefälle?

Auf der von ihm angesprochenen Seite VII seines ersten Bandes schreibt Frege tatsächlich, dass ein „Streit“ um sein Grundgesetz V „entbrennen“ kann:[6]

Ein Streit kann hierbei, soviel ich sehe, nur um mein Grund­gesetz der Werthverläufe (V) entbrennen, das von den Logikern vielleicht noch nicht eigens ausgesprochen ist, obwohl man danach denkt, z.B. wenn man von Begriffsumfängen redet. Ich halte es für rein logisch. Jedenfalls ist hiermit die Stelle bezeichnet, wo die Entscheidung fallen muss.

Weitere Beispiele für die Russellsche Antinomie

  • Ein Barbier rasiert alle Männer des Ortes, die sich nicht selbst rasieren, und nur diese. Rasiert er sich selbst?[7]
  • Ein Katalog listet alle Kataloge auf, die sich nicht selbst auflisten, und nur diese. Listet dieser Katalog sich selbst auf?

Formalere Beschreibung der Russellschen Antinomie

Zuvor wurde Russellsche Antinomie informell beschrieben. Im Folgenden wird das Problem auf etwas formalerer Ebene beleuchtet.

Siehe auch: Klasse, Abschnitt „Axiomatisierung“

Definition der „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“

Zunächst zeigt man, dass die „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“ auch ein Objekt unserer Anschauung ist und damit Element einer beliebigen Menge sein kann.

Es sei $U$ ein Universum, das die Gesamtheit „aller Objekte unserer Anschauung und unseres Denkens“ umfasse.

Ein logischer Ausdruck $A(x)$ beschreibt bestimmte Eigenschaften von Objekten aus $U$, indem sie für jedes Objekt $x$ aus $U$ den Wert wahr oder falsch als Ergebnis hat (vgl. Definition des Begriffes „Aussage“). Dabei bedeutet:

  • wahr: $x$ hat die mit $A(x)$ beschriebene Eigenschaft.
  • falsch: $x$ hat die mit $A(x)$ beschriebene Eigenschaft nicht.

Damit kann man nun die „Menge aller Objekte $x$ mit der Eigenschaft $A(x)$“ definieren: $\{x:A(x)\}$ bezeichnet die Menge aller Objekte $x$ aus $U$, die die Eigenschaft $A$ haben, d.h., für die $A(x)$ den Wert wahr hat.

Nun kann man die Element-Beziehung $b \in \{x:A(x)\}$ folgendermaßen definieren: $b$ ist genau dann ein Element der Menge $\{x:A(x)\}$, in Zeichen $b \in \{x:A(x)\}$, wenn $A(b)$ wahr ist, d.h., wenn $A(b)$ den Wert wahr hat.

Beispiele

  • $S_{HSA} := \{x:x \mbox{ ist derzeit Student an der Hochschule Augsburg}\}$ ist die Menge aller derzeit an der HSA immatrikulierten Studenten (diese Menge ändert sich im Laufe der Zeit).
  • $P = \{x:x \mbox{ ist eine Primzahl}\}$ ist die Menge aller Primzahlen; $7 \in P$, $8 \not\in P$.
  • $\mathbb{Q} := \{x:x \mbox{ ist eine rationale Zahl}\}$ ist die Menge der rationalen Zahlen; $2/3 \in \mathbb{Q}, \pi \not\in \mathbb{Q}$.
  • $\mathcal{V} := \{x:x \mbox{ ist eine Menge}\}$ sei die Menge aller Mengen; $S_{HSA} \in \mathcal{V}, P \in \mathcal{V}$, $\mathbb{Q} \in \mathcal{V}$, $\mathcal{V} \in \mathcal{V}$ (sofern $\mathcal{V}$ tatsächlich eine Menge wäre).

Mengen, die sich selbst enthalten

Jede Menge $\{x:A(x)\}$ ist „ein Objekt unserer Anschauung“ und damit ein Objekt aus unserem Universum $U$. Dabei gibt es auch Mengen, die die etwas ungewöhnliche Eigenschaft haben, sich selbst zu enthalten. Zum Beispiel enthält sich die Allklasse $\mathcal{V}$ selbst, zumindest, wenn $\mathcal{V}$ die Eigenschaft hätte, eine Menge zu sein.

Man beachte, dass Mengen, die sich selbst enthalten, nicht so selten und exotisch sind, wie man vermuten könnte. In der Informatik kommen sie sogar recht häufig vor: Immer, wenn man Objekte so miteinander verkettet, dass ein geschlossener Pfad entsteht, hat man im Prinzip eine Menge definiert, die sich selbst enthält.

Beispiel in JavaScript

Source: http://glossar.hs-augsburg.de/beispiel/javascript/SetTheory/SelfContainment/

var tuple = {a: 123, b: "foo"}; 
tuple.c = tuple;

Das Objekt tuple enthält sich selbst, wie man ganz leicht nachprüfen kann. Folgende Befehle geben alle den Wert 123 auf der Konsole aus:

console.log(tuple.a);
console.log(tuple.c.a);
console.log(tuple.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.a);

Es gilt also:

tuple == tuple.c == tuple.c.c == tuple.c.c.c == ... == 
{a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: ... }}}

Man beachte, dass jedes JavaScript-Objekt als ein Tupel in Attributnotation, d.h., als eine spezielle Menge aufgefasst werden kann. Das heißt, man kann die obige Aussage auch folgendermaßen formulieren:

Die Menge tuple enthält sich selbst.

Datenstrukturen, die die Bildung von Zyklen erlauben, kommen in der Informatik recht häufig vor:

Russellsche Antinomie

Aus der Tatsache, dass es Mengen geben kann, die sich selbst enthalten, und andere, bei denen dies nicht der Fall ist, ergibt sich sofort eine Frage: Kann man alle Mengen, die sich nicht selbst enthalten, in einer Menge zusammenfassen?

$\mathcal R := \{x:x \mbox{ ist eine Menge} \wedge x \notin x\}$ ist die so genannte Russellmenge. Sie enthält – laut Definition – alle Mengen, die sich nicht selbst enthalten.

Es gilt z.B. $\{x:x \mbox{ ist eine Primzahl}\} \in \mathcal R$ und $\mathbb{Q} \in \mathcal R$, aber ${\rm Sonne} \notin \mathcal R$ (Sonne ist keine Menge) und $\mathcal{V} \notin \mathcal R$ (Die Allklasse $\mathcal{V}$ könnte zwar theoretisch eine Menge sein – sie ist es aber nicht, wie Cantor bereits 1899 gezeigt hat[8]–, würde sich in diesem Fall aber selbst enthalten, da sie per Definitionem alle Mengen enthält).

Die Frage ist, ob sich die Russellmenge selbst enthält oder nicht. Gemäß Definition enthält sich die Russellmenge genau dann selbst, wenn sie eine Menge ist und sich nicht selbst enthält:

$\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist ein Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R$.

Wenn man die berühmte Cantorsche Definition von 1895

Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung $ M $ von bestimmten wohlunterscheidbaren Objecten $ m $ unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente von $ M $ genannt werden) zu einem Ganzen.[9]

naiv interpretiert (was Cantor selbst allerdings nicht tat; vgl. Kapitel Cantors Definitionen und Antinomien im Artikel Menge), ist die Russellmenge ein wohlunterscheidbares Object unseres Denkens und damit eine Menge. Und damit ergibt sich sofort der erwähnte Widerspruch:

$\mathcal{R} \in \mathcal{R} \Leftrightarrow \mathcal{R} \notin \mathcal{R}$.

In Worten: Die Russellmenge enthält sich genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.

Vermeidung des Russell-Paradoxons

Die möglichen Lösungen des zuvor beschriebenen Problems, dass die Cantorsche Definition des Begriffs „Menge“ zu einem Paradoxon führt, liegen auf der Hand: Man muss dafür sorgen, dass $\mathcal{R}$ entweder gar nicht definiert werden kann oder, falls doch, zumindest keine Menge ist.

Typentheorie

Die von Russell 1903 in seiner Typentheorie vorgeschlagene Lösung, Mengen abhängig von den darin enthaltenen Mengen hierarchisch in „Ebenen" anzuordnen, verhindert die Definition von $\mathcal{R}$. Es gibt keine Ebene, auf der $\mathcal{R}$ zu liegen käme.[10] Russell ging von einer Menge von Grundelementen aus, die der Stufe 0 der Typhierarchie zugeordnet sind. Die Stufe n+1 der Typhierachie ist stets die Potenzmenge der Stufe n.

Stufe 0: 0, 1, 2, ... (irgendwelche Grundelemente, die keine Mengen sind)
Stufe 1: {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ...,
Stufe 2: {{}}, {{0}}, {{1}}, ..., {{0,1}}, {{0,2}}, ..., ..., {{},{0}}, ..., {{},{0},{0,1}}, ...
Stufe 3: ...

Diese Struktur ist allerdings ziemlich sperrig. Man kann z.B. keine Mengen der Art {1, {1,2,3}} bilden, da 1 und {1,2,3} auf unterschiedlichen Stufen liegen. Diese Probleme kann man lösen, wenn man dafür sorgt, dass jede Stufe nicht nur die Elemente der Potenzmenge der Vorgängerstufe enthält, sondern auch alle Elemente der Vorgängerstufe selbst.

Stufe 0: 0, 1, 2, ... (irgendwelche Grundelemente, die keine Mengen sind)
Stufe 1: 0, 1, 2, ..., {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ...
Stufe 2: 0, 1, 2, ..., {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ..., {{}}, {{}, 0}, {{}, 1}, ..., {{}, {0}}, {{}, 0, {0}}, ..., ...
Stufe 3: ...

Diese Ebenenstruktur wird Kumulative Typhierarchie) genannt.[11] In beiden Fällen kann eine Menge $n$-ter Stufe kann nur Mengen aus Stufen $m$ kleiner $n$ enthalten. Damit gibt es keine Mengen, die sich selbst enthalten (weil ja jede Menge derselben Stufe angehört wie sie selbst). Es gibt also keine „Menge aller Mengen“ und auch keine „Russellmenge“.

Klassen

Die modernere Klassenlehre verhindert die Definition von $\mathcal{R}$ nicht vollständig. Sie verhindert allerdings, dass eine Menge $\mathcal{R}$ definiert werden kann. $\mathcal{R}$ wird hier als Unmenge oder echte Klasse bezeichnet.

Man nennt eine „Zusammenfassung von bestimmten Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ zunächst einmal Klasse und nicht Menge. (Man beachte, dass zu Zeiten von Cantor, Russell und Co, die Begriffe Klasse und Menge noch synonymisch benutzt wurden.) Der wichtigste Unterschied zu Cantors Definition ist, dass man nicht von jeder Klasse fordert, ebenfalls ein solches „Objekt unserer Anschauung und unseres Denkens“ zu sein, das in irgendwelchen Zusammenfassungen enthalten sein kann. Das heißt, es kann Klassen geben, die kein Element irgendeiner anderen Klasse sind, zum Beispiel, weil sie einfach „zu groß“ sind. Im Gegensatz zu Cantors Zeiten unterscheidet man daher heute strikt zwischen „Mengen“ und „echten Klassen“ :

Eine Klasse heißt Menge, genau dann, wenn sie Element mindestens einer beliebigen Klasse ist.

Anderenfalls heißt sie echte Klasse oder Unmenge.

In der kumulativen Typhierarchie ist eine Menge ein Element, das auf irgendeiner Stufe (und damit ebenfalls auf allen darüber liegende Stufen) liegt. Die erste Stufe, auf der eine Menge zu liegen kommt, heißt definierende Stufe. Eine Unmenge ist dagegen eine Klasse, die kein Element einer anderen Klasse ist und für die es daher auch keine definierende Stufe gibt. Für die Elemente einer Unmenge gibt es dagegen schon definierende Stufen. Es gibt allerdings keine größte dieser Stufen. Das heißt, für jedes Element einer Unmenge gibt es beliebig viele weitere Elemente der Unmenge, deren definierenden Stufen oberhalb der definierenden Stufe dieses Elements liegt.

Beispiele für Unmengen sind die Allklasse, d.h. die Klasse, die alle Mengen enthält (aber nicht alle Klassen!), sowie die Russellklasse, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Die Russellklasse enthält sich nicht selbst, da sie die Bedingung „$\mathcal{R}$ ist eine Menge“ nicht erfüllen kann (sonst ergäbe sich sofort die Russellsche Antinomie):

$\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist eine Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R$

Wenn $R \mbox{ ist eine Menge}$ gelten würde, ergäbe sich der Widerspruch $\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R$.

Also gilt $\mathcal R$ ist keine Menge, sondern eine Unmenge und damit gilt (beweisbar!) $\mathcal R \notin \mathcal R$, da eine Unmenge überhaupt kein Element irgendeiner Menge ist.

Es gibt noch Unmengen von weiteren Unmengen. :-)

Die „Klassenlehre“ hat sich bisher als sehr stabil erwiesen. Es wurden bislang keine weiteren Antinomien entdeckt und daher geht man davon aus, dass damit eine widerspruchsfreie Mengenlehre definiert wurde. Leider beweist Kurt Gödel mit seinem zweiten Unvollständigkeitssatz unter anderem auch, dass man die Widerspruchsfreiheit der zugehörigen Axiome der Mengenlehre nicht nachweisen kann.[12][13] Mit ein wenig Unsicherheit bezüglich dieser Definition müssen wir also bis in alle Zeiten leben. Vielleicht finden Sie ja eine neue Antinomie, die in den aktuellen Mengenlehre-Axiomensystemen enthalten ist. (Allerdings sollten Sie nicht Ihre Zeit damit verschwenden, da die Erfolgsaussichten doch sehr gering sind.)

Quellen

  1. Frege (1893): Gottlob Frege; Grundgesetze der Arithmetik; Band: I; Verlag: Verlag Hermann Pohle; Adresse: Jena; Web-Link 0, Web-Link 1, Web-Link 2, Web-Link 3; 1893; Quellengüte: 5 (Buch)
  2. Ebbinghaus (2015): Heinz-Dieter Ebbinghaus; Ernst Zermelo – An Approach to His Life and Work; Reihe: Hochschultaschenbuch; Auflage: 2; Verlag: Springer-Verlag; Adresse: Berlin, Heidelberg; ISBN: 978-3-662-47996-4; 2015; Quellengüte: 5 (Buch)
  3. Irvine, Deutsch (2014): Andrew David Irvine und Harry Deutsch; Russell's Paradox; Hrsg.: Edward N. Zalta; Reihe: The Stanford Encyclopedia of Philosophy; Auflage: Winter 2014 Edition; Hochschule: Stanford University; http://plato.stanford.edu/archives/win2014/entries/russell-paradox/; 2014; Quellengüte: 3 (Web)
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 Gabriel et al. (1980): Gottlob Frege; Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges; Hrsg.: Gottfried Gabriel, Friedrich Kambartel und Christian Thiel; Verlag: Meiner Felix Verlag; ISBN: 3787304827; Web-Link; 1980; Quellengüte: 5 (Buch), S. 59f, Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902
  5. Frege (1903): Gottlob Frege; Grundgesetze der Arithmetik; Band: II; Verlag: Verlag Hermann Pohle; Adresse: Jena; Web-Link 0, Web-Link 1; 1903; Quellengüte: 5 (Buch), S. 253
  6. Frege (1893), S. VII
  7. Russell (1918): Bertrand Russell; The Philosophy of Logical Atomism; in: The Monist; Web-Link; 1918, 1919; Quellengüte: 5 (Artikel), S. 228
  8. Brief von Cantor an Dedekind vom 30. August 1899, Zermelo (1932): Georg Cantor; Georg Cantor: Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts – Mit erläuternden Anmerkungen sowie mit Ergänzungen aus dem Briefwechsel Cantor-Dedekind; Hrsg.: Ernst Zermelo; Auflage: 1; Verlag: Springer-Verlag; Adresse: Berlin; ISBN: 978-3662002544; Web-Link; 1932; Quellengüte: 5 (Buch), S. 448
  9. Cantor (1895): Georg Cantor; Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre; in: Mathematische Annalen; Band: 46; Nummer: 4; Seite(n): 481 – 512; Verlag: B. G. Teubner Verlag; Adresse: Leipzig; ISSN: 00255831 (Papier), 14321807 (Online); Web-Link 0, Web-Link 1, Web-Link 2, Web-Link 3; 1895; Quellengüte: 5 (Artikel)
  10. Russell (1903): Bertrand Russell; The Principles of Mathematics; Auflage: 2; Verlag: W. W. Norton & Company; Adresse: Berlin; Web-Link; 1903; Quellengüte: 5 (Buch), §§497-500.
  11. Felscher (1978): W. Felscher; Naive Mengen und abstrakte Zahlen; Band: 1; Verlag: BI-Wissenschaftsverlag; Adresse: Mannheim; ISBN: 3-411-01538-1; 1978; Quellengüte: 5 (Buch)
  12. Gödel (1931): Kurt Gödel; Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I; in: Monatshefte für Mathematik und Physik; Band: 38; Nummer: 1; Seite(n): 173-198; Verlag: Springer-Verlag GmbH; Adresse: Wien; Web-Link; 1931; Quellengüte: 5 (Artikel)
  13. Schwichtenberg (2009): Helmut Schwichtenberg; Mathematical Logic; Hochschule: Ludwig-Maximilians-Universität; Adresse: München; Web-Link; 2009; Quellengüte: 5 (Skript)

Siehe auch