Russellsche Antinomie

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Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte Bertrand Russell, dass ein naiver Mengenbegriff es ermöglicht, eine widerspruchsvolle „Menge“ zu definieren, die nicht existieren kann. Diese Entdeckung führte zusammen mit anderen Paradoxa, die ebenfalls um die Jahrhundertwende herum entdeckt wurden, zur Grundlagenkrise der Mathematik.

Definition

Die sogenannte Russellklasse $ \mathcal R := \{x|x \notin x\} $ definiert die „Menge“ aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten. Als Menge kann sie nicht existieren, da nicht geklärt werden kann, ob $ \mathcal R $ sich selbst enthält oder nicht.

Um zu bestimmen, ob $ \mathcal R $ ein Element $ a $ enthält, d. h. ob $ a \in \mathcal R $ gilt, muss man $ a $ als Wert für $ x $ in die Definition einsetzen. Daraus leitet sich folgende Bedingung ab:

$ a \in \mathcal R \Leftrightarrow a \notin a\quad $ ($ a $ ist genau dann in $ \mathcal R $ enthalten, wenn $ a $ nicht in $ a $ enthalten ist))

Wenn man überprüfen will, ob sich Russellmenge selbst enthält, muss man also $ \mathcal R $ selbst als Wert für $ x $ in die Definition einsetzen. Damit erhält man aber eine widerspruchsvolle, d. h. unerfüllbare Aussage:

$ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R $

Die Russellklasse $ \mathcal R $ enthält sich selbst, genau dann, wenn sich $ \mathcal R $ nicht selbst enthält.

Anschauliche Beispiele für die Russellsche Antinomie

  • Ein Barbier rasiert alle Männer des Ortes, die sich nicht selbst rasieren, und nur diese. Rasiert er sich selbst?[1]
  • Ein Katalog listet alle Kataloge auf, die sich nicht selbst auflisten, und nur diese. Listet dieser Katalog sich selbst auf?

Bedeutung der Antinomie

1903 hat Russell diese Antinomie publiziert, nachdem er die Antinomie im Axiomensystem von Frege[2] entdeckt hatte.[3] Frege war der erste Philosoph und Mathematiker, der ein formales System entwickelt hatte, mit dessen Hilfe er mathematische Sätze rein formal herleiten wollte, d. h. ohne Benutzung einer Metasprache, in der viele Begriffe üblicherweise nur anschaulich definiert werden. Russell hat nun gezeigt, dass sich die widerspruchsvolle Aussage

$ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R $

aus Freges Axiomensystem ableiten lässt.

Das Problem einer derartigen Antinomie ist, dass sich aus einem Widerspruch jede beliebige Aussage herleiten lässt. Das heißt, ein widerspruchsvolles formales System ist wertlos. Seitdem Russell diese Erkenntnis publiziert hat, ist es nicht mehr möglich, ein System zur Formalisierung der Mathematik zu definieren, ohne zu begründen, dass die bekannten Antinomien nicht auf eine naheliegende Weise mit Hilfe der Formalismen des Systems abgeleitet werden können. Allerdings ist es aufgrund der Gödelschen Unvollständigkeitssätze nicht möglich, zu beweisen, dass ein derartiges System auch wirklich widerspruchsfrei ist.

Wie gesagt: Falls ein System widerspruchsvoll sein sollte, kann man alles beweisen, insbesondere jede Antinomie. Das heißt, die Antinomie-Freiheit eines (hinreichend komplexen) formalen Systems kann niemlas bewiesen werden. Es ist aber jederzeit möglich, dass ein findiger Kopf einen Widerspruch in einem aktuellen formalen System findet und damit beweist, dass in diesem System jede beliebige Aussage ableitbar ist. Den Mathematikern, Logikern und Philosophen bleibt daher nichts weiter übrig, als darauf zu vertrauen, dass ein derartiger Widerspruch nicht enthalten ist, weil er sonst vermutlich schon entdeckt worden wäre. Und falls doch jemand eine neue Antinomie entdeckten sollte, dann hofft man, dass sie ähnlich einfach behoben werden kann, wie die Russellsche Antinomie. Beispielsweise entdeckten 1935 Stephen Kleene und John Barkley Rosser im Lambda-Kalkül von Alonzo Church sowie in der Kombinatorischen Logik von Moses Schönfinkel and Haskell Curry einen Widerspruch,[4] der jedoch ebenfalls behoben werden konnte.

Aus Russells und Gödels Ergebnissen lässt sich eine fundamentale Erkenntnis ableiten: Auch die Mathematik ist letztlich eine Glaubensfrage. Eine endgültige Sicherheit wird es nie geben. Daher ist es auch sehr sinnvoll, dass in englischsprachigen Ländern den Mathematikern ein „Doktor der Philosophie“ (PhD) verliehen wird.

Geschichte

Der von Bolzano, Frege, Dedekind und anderen geprägte „naive“ Mengebegriff, das beliebige Objekte in einer Menge zusammengefasst werden können, führt zu einer Antinomie. Dieses logische Paradoxon wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von Bertrand Russell im Axiomensystem von Frege[2] entdeckt.[5] Russell schrieb seine Entdeckung am 16. Juni 1902 an Frege.[6]

Russell definiert die Russellklasse – wie diese Klasse heute (zu Recht!) genannt wird – als die Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst enthalten:

Ebenso giebt es keine Klasse (als Ganzes) derjenigen Klassen die als Ganze sich selber nicht angehören.[6]

Anfang des 20. Jahrhunderts hat man noch nicht zwischen Klassen und Mengen unterschieden. Diese Unterscheidung wurde erst später eingeführt, um die Russellsche Antinomie und andere Paradoxa zu vermeiden (siehe unten).

Die Russellklasse ist gemäß Freges Axiomensystem eine Menge und kann außerdem Element von anderen Mengen sein – evtl. sogar von sich selbst! Und so stellt Russell die Frage, ob sich die Russellklasse selbst enthält. Diese Frage führt aber zu einem Widerspruch: Die Russellklasse enthält sich – laut Definition der Russellklasse – genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält. Russell bemerkt dazu:

Daraus schliesse ich dass unter gewissen Umständen eine definierbare Menge kein Ganzes bildet.[6]

Dieses Paradoxon war der Beginn der Grundlagenkrise der Mathematik. Schon Frege war „auf's Höchste überrascht und [...] bestürzt“.[6] Im Nachwort zum zweiten Band seiner „Grundgesetze der Arithmetik“[7], der 1903 erschienen ist, schreibt Frege:

Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als dass ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte. Es handelt sich um mein Grundgesetz (V). Ich habe mir nie verhehlt, dass es nicht so einleuchtend ist, wie die andern, und wie es eigentlich von einem logischen Gesetze verlangt werden muss. Und so habe ich denn auch im Vorworte zum ersten Bande S. VII auf diese Schwäche hingewiesen. Ich hätte gerne auf diese Grundlage verzichtet, wenn ich irgendeinen Ersatz dafür gekannt hätte. Und noch jetzt sehe ich nicht ein, wie die Arithmetik wissenschaftlich begründet werden könne, wie die Zahlen als logische Gegenstände gefasst und in die Betrachtung eingeführt werden können, wenn es nicht — bedingungsweise wenigstens — erlaubt ist, von einem Begriffe zu seinem Umfange überzugehn. Darf ich immer von dem Umfange eines Begriffes, von einer Klasse sprechen? Und wenn nicht, woran erkennt man die Ausnahmefälle?

Auf der von ihm angesprochenen Seite VII seines ersten Bandes schreibt Frege tatsächlich, dass ein „Streit“ um sein Grundgesetz V „entbrennen“ kann:[8]

Ein Streit kann hierbei, soviel ich sehe, nur um mein Grund­gesetz der Werthverläufe (V) entbrennen, das von den Logikern vielleicht noch nicht eigens ausgesprochen ist, obwohl man danach denkt, z. B. wenn man von Begriffsumfängen redet. Ich halte es für rein logisch. Jedenfalls ist hiermit die Stelle bezeichnet, wo die Entscheidung fallen muss.

Hilbert erfuhr von dem Russellschen Paradoxon aus einer Kopie des zweiten Bandes der „Grundgesetze der Arithmetik“, den Frege ihm geschickt hatte. Er schrieb daraufhin an Frege, dass Zermelo dieses Paradoxon schon drei oder vier Jahre zuvor (also 1899 oder 1900) ebenfalls entdeckt hatte und er selbst vor vier oder fünf Jahren weitere, noch überzeugendere Widerspruche gefunden hatte.[9]

Wirklich ernst genommen hatten die Mathematiker dieser Zeit derartige Widersprüche allerdings noch nicht. Erst die Erkenntnis, das der erste Versuch, ein streng formales Fundament für die Mathematik zu schaffen, wegen dieser Paradoxa gescheitert ist, veranlasste die Mathematiker, sich mit dieser Problematik ernsthaft auseinanderzusetzen. Russell fand mit der Typentheorie eine erste Lösung, wie sich diese Probleme vermeiden lassen.[10][11] Später folgten diverse alternative Methoden, die Mathematik streng zu formalisieren und dabei die bekannten Paradoxien und Antinomien zu vermeiden: Axiomatisierung der Mengenlehre (Zermelo (1908b)[12], Neumann (1925))[13], Lambda-Kalkül (Church (1941))[14], Klassenlogik (Glubrecht, Oberschelp, Todt (1983))[15] und viele weitere.

1908 bestätigt Ernst Zermelo in einer Fußnote Hilberts Aussage, dass er selbst die Russellsche Antinomie auch schon vor 1903 entdeckt und Hilbert mitgeteilt habe.[16] Daher spricht man manchmal auch vom Zermelo-Russell Paradoxon (siehe z. B. Ebbinghaus (2015), Chapter 2.4.3[17]). Zermelo selbst nennt das Paradoxon allerdings „Russelsche Antinomie“.[18][19]

Formalere Beschreibung der Russellschen Antinomie

In der Definition wurde Russellsche Antinomie informell beschrieben. Im Folgenden wird das Problem auf etwas formalerer Ebene beleuchtet.

Siehe auch: Klasse, Abschnitt „Axiomatisierung“

Definition der „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“

Zunächst zeigt man, dass die „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“ auch ein Objekt unserer Anschauung ist und damit Element einer beliebigen Menge sein kann.

Es sei $ U $ ein Programmiersprache C, das die Gesamtheit „aller Objekte unserer Anschauung und unseres Denkens“ umfasse.

Ein logischer Ausdruck $ A(x) $ beschreibt bestimmte Eigenschaften von Objekten aus $ U $, indem sie für jedes Objekt $ x $ aus $ U $ den Wert wahr oder falsch als Ergebnis hat (vgl. Definition des Begriffes „Aussage“). Dabei bedeutet:

  • wahr: $ x $ hat die mit $ A(x) $ beschriebene Eigenschaft.
  • falsch: $ x $ hat die mit $ A(x) $ beschriebene Eigenschaft nicht.

Damit kann man die „Menge aller Objekte $ x $ mit der Eigenschaft $ A(x) $“ definieren: $ \{x|A(x)\} $ bezeichnet die Menge aller Objekte $ x $ aus $ U $, die die Eigenschaft $ A $ haben, d. h., für die $ A(x) $ den Wert wahr hat.

Nun kann man die Element-Beziehung $ b \in \{x|A(x)\} $ folgendermaßen definieren: $ b $ ist genau dann ein Element der Menge $ \{x|A(x)\} $, in Zeichen $ b \in \{x|A(x)\} $, wenn $ A(b) $ wahr ist, d. h., wenn $ A(b) $ den Wert wahr hat.

$ b \in \{x|A(x)\} \Leftrightarrow A(b) $

Beispiele

  • $ P = \{x|x \mbox{ ist eine Primzahl}\} $ ist die Menge aller Primzahlen; $ 7 \in P $, $ 8 \not\in P $.
  • $ \mathbb{Q} := \{x|x \mbox{ ist eine rationale Zahl}\} $ ist die Menge der rationalen Zahlen; $ 2/3 \in \mathbb{Q}, \pi \not\in \mathbb{Q} $.
  • $ \mathcal{V} := \{x|x \mbox{ ist eine Menge}\} $ sei die Menge aller Mengen; $ S_{HSA} \in \mathcal{V}, P \in \mathcal{V} $, $ \mathbb{Q} \in \mathcal{V} $, $ \mathcal{V} \in \mathcal{V} $ (sofern $ \mathcal{V} $ tatsächlich eine Menge wäre).
  • $ S_{HSA} := \{x|x \mbox{ ist derzeit Student an der Hochschule Augsburg}\} $ ist die Menge aller derzeit an der HSA immatrikulierten Studenten (diese Menge ändert sich im Laufe der Zeit).

Mengen, die sich selbst enthalten

Jede Menge $ \{x|A(x)\} $ ist „ein Objekt unserer Anschauung“ und damit ein Objekt aus unserem Programmiersprache C $ U $. Dabei gibt es auch Mengen, die die etwas ungewöhnliche Eigenschaft haben, sich selbst zu enthalten. Zum Beispiel enthielte sich die Allklasse $ \mathcal{V} $ selbst, wenn $ \mathcal{V} $ eine Menge wäre. Allerdings hat Cantor bereits 1899 gezeigt, dass die dies nicht der Fall ist.[20] Ein anderes Beispiel ist die Unterscheidung von Objekten und Nicht-Objekten: Zum Beispiel enthält sich die Menge aller Menschen nicht selbst (da eine Menge kein Mensch ist), die Menge aller Nicht-Menschen enthält sich dagegen selbst (da diese Menge ebenfalls ein Nicht-Mensch ist). Aber auch hier besteht das Problem, das die Menge aller Menschen vereinigt mit der Menge aller Nicht-Menschen die Allklasse wäre, die ja nicht als Menge existieren kann.

Man beachte, dass Mengen, die sich selbst enthalten, trotz der zuvor genannten Probleme nicht so selten und exotisch sind, wie man vermuten könnte. In der Informatik kommen sie sogar recht häufig vor: Immer, wenn man Objekte so miteinander verkettet, dass ein geschlossener Pfad entsteht, hat man im Prinzip eine Menge definiert, die sich selbst enthält.

Beispiel in JavaScript

Source: https://glossar.hs-augsburg.de/beispiel/javascript/SetTheory/SelfContainment/

let tuple = {a: 123, b: "foo"}; 
tuple.c = tuple;

Das Objekt tuple enthält sich selbst, wie man ganz leicht nachprüfen kann. Folgende Befehle geben alle den Wert 123 auf der Konsole aus:

console.log(tuple.a);
console.log(tuple.c.a);
console.log(tuple.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.a);

Es gilt also:

tuple == tuple.c == tuple.c.c == tuple.c.c.c == ... == 
{a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: ... }}}

Man beachte, dass jedes JavaScript-Objekt als ein Tupel in Attributnotation, d. h., als eine spezielle Menge aufgefasst werden kann. Das heißt, man kann die obige Aussage auch folgendermaßen formulieren:

Die Menge tuple enthält sich selbst.

Datenstrukturen, die die Bildung von Zyklen erlauben, kommen in der Informatik recht häufig vor:

Russellsche Antinomie

Aus der Tatsache, dass es Mengen geben kann, die sich selbst enthalten, und andere, bei denen dies nicht der Fall ist, ergibt sich sofort eine Frage: Kann man alle Mengen, die sich nicht selbst enthalten, in einer Menge zusammenfassen?

$ \mathcal R := \{x|x \mbox{ ist eine Menge} \wedge x \notin x\} $ ist die so genannte Russellklasse. Sie enthält – laut Definition – alle Mengen, die sich nicht selbst enthalten.

Es gilt z.B. $ \{x|x \mbox{ ist eine Primzahl}\} \in \mathcal R $ und $ \mathbb{Q} \in \mathcal R $, aber $ {\rm Sonne} \notin \mathcal R $ (Sonne ist keine Menge) und $ \mathcal{V} \notin \mathcal R $ Die Allklasse $ \mathcal{V} $ ist keine Menge und damit kein Element von $ \mathcal R $. Aber auch wenn sie eine Menge wäre, wäre Sie nicht in $ \mathcal R $ enthalten, da sie sich dann selbst enthalten würde.

Die Frage ist, ob sich die Russellklasse selbst enthält oder nicht. Gemäß Definition enthält sich die Russellklasse genau dann selbst, wenn sie eine Menge ist und sich nicht selbst enthält:

$ \mathcal R \in \mathcal R \,\Leftrightarrow\, \mathcal R \in \{x|x \mbox{ ist eine Menge} \wedge x \notin x\} \,\Leftrightarrow\, \mathcal R \mbox{ ist ein Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R $

Wenn man die berühmte Cantorsche Definition von 1895

Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung $ M $ von bestimmten wohlunterscheidbaren Objecten $ m $ unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente von $ M $ genannt werden) zu einem Ganzen.[21]

naiv interpretiert (was Cantor selbst allerdings nicht tat; vgl. Kapitel Cantors Definitionen und Antinomien im Artikel Menge), ist die Russellklasse ein wohlunterscheidbares Object unseres Denkens und damit eine Menge. Und damit ergibt sich sofort der erwähnte Widerspruch:

$ \mathcal{R} \in \mathcal{R} \Leftrightarrow \mathcal{R} \notin \mathcal{R} $

In Worten: Die Russellklasse enthält sich genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.

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Mengenuniversum, in der jede Menge ein Individuum ist und damit selbst Element von Mengen sein kann

Moderne Formalisierungen der Logik und/oder der Mengenlehre basieren auf einer Menge von Ausdrücken oder Formeln (Ausdrucksuniversum) und einer beliebigen Anzahl von Individuenbereichen, die verwendet werden können, um die Ausdrücke zu interpretieren. Üblicherweise definiert man mit Hilfe der Ausdrücke eine Menge von Axiomen, die als wahr vorausgesetzt werden. Ausdrücke heißen erfüllbar oder widerspruchsfrei, wenn es Individuenbereiche gibt, für die gegebene Ausdrücke wahr sind. Der Ausdruck $ \exists x: x \wedge \neg x $ ist zum Beispiel unerfüllbar, da es keinen Wahrheitswert gibt, der gleichzeitig wahr und falsch ist.

Natürlich ist man nur an erfüllbaren, d. h. widerspruchsfreien Axiomen interessiert. Das Russell-Paradoxon lehrt uns nun, dass die unbeschränkte Mengenbildung (Komprehension) nicht möglich ist. Ein Mengenuniversum, in dem beliebige Individuen in einer Menge zusammengefasst werden können und überdies jede Menge selbst ein Individuum ist, kann es nicht geben. Ein Komprehensionsaxiom, das dies ermöglicht, ist genauso wenig erfüllbar, wie der Ausdruck $ \exists x: x \wedge \neg x $.

TO BE DONE

Quellen fehlen

Vermeidung des Russell-Paradoxons

Die möglichen Lösungen des zuvor beschriebenen Problems, dass die Cantorsche Definition des Begriffs „Menge“ zu einem Paradoxon führt, liegen auf der Hand: Man muss dafür sorgen, dass $ \mathcal{R} $ entweder gar nicht definiert werden kann oder, falls doch, zumindest keine Menge ist.

Das heißt, man muss verhindern, dass eine uneingeschränkte Komprehension unmöglich ist, indem man entweder die Bildung gewisser Mengenausdrücke verbietet oder die Komprehension axiomatisch einschränkt.

Typentheorie

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Mengenuniversum, in der jede Menge der Stufe $ i $ ein Individuum der Stufe $ i+1 $ ist
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Mengenuniversum, in der jede Menge der Stufe $ i $ ein Individuum aller Stufen $ j > i $ ist

Die von Russell 1903 in seiner Typentheorie vorgeschlagene Lösung, Mengen abhängig von den darin enthaltenen Mengen hierarchisch in „Ebenen" anzuordnen, verhindert die Definition von $ \mathcal{R} $. Es gibt keine Ebene, auf der $ \mathcal{R} $ zu liegen käme[10] Russell ging von einer Menge von Grundelementen aus, die der Stufe 0 der Typhierarchie zugeordnet sind. Die Stufe n+1 der Typhierachie ist stets die Potenzmenge der Stufe n.

Stufe 0: 0, 1, 2, ... (irgendwelche Grundelemente, die keine Mengen sind)
Stufe 1: {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ...,
Stufe 2: {{}}, {{0}}, {{1}}, ..., {{0,1}}, {{0,2}}, ..., ..., {{},{0}}, ..., {{},{0},{0,1}}, ...
Stufe 3: ...

Diese Struktur ist allerdings ziemlich sperrig. Man kann z.B. keine Mengen der Art {1, {1,2,3}} bilden, da 1 und {1,2,3} auf unterschiedlichen Stufen liegen. Dieses Problem kann man lösen, wenn man dafür sorgt, dass jede Stufe nicht nur die Elemente der Potenzmenge der Vorgängerstufe enthält, sondern auch alle Elemente der Vorgängerstufe selbst.

Stufe 0: 0, 1, 2, ... (irgendwelche Grundelemente, die keine Mengen sind)
Stufe 1: 0, 1, 2, ..., {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ...
Stufe 2: 0, 1, 2, ..., {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ..., {{}}, {{}, 0}, {{}, 1}, ..., {{}, {0}}, {{}, 0, {0}}, ..., ...
Stufe 3: ...

Diese Ebenenstruktur wird Kumulative Typhierarchie genannt.[22] In beiden Fällen kann eine Menge $ n $-ter Stufe kann nur Mengen aus Stufen $ m $ kleiner $ n $ enthalten. Damit gibt es keine Mengen, die sich selbst enthalten (weil ja jede Menge derselben Stufe angehört wie sie selbst). Es gibt also keine „Menge aller Mengen“ und auch keine „Russellmenge“.

Axiomatische Mengenlehre (Zermelo, Fraenkel)

TO BE DONE

Klassen

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Mengenuniversum, in dem zwischen Mengen und echten Klassen unterschieden wird; Mengen können als Individuen Elemente von beliebigen Klassen sein; für echte Klassen gilt dies dagegen nicht
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Man kann auf i. Allg. auf echte Individuen verzichten. Die leere Menge und die Möglichkeit, damit andere Mengen zu bilden, reichen aus, beliebige Individuen zu repräsentieren

Die modernere Klassenlehre verhindert die Definition von $ \mathcal{R} $ nicht vollständig. Sie verhindert allerdings, dass eine Menge $ \mathcal{R} $ definiert werden kann. $ \mathcal{R} $ wird hier als Unmenge oder echte Klasse bezeichnet.

Man nennt eine „Zusammenfassung von bestimmten Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ zunächst einmal Klasse und nicht Menge. (Man beachte, dass zu Zeiten von Cantor, Russell und Co, die Begriffe Klasse und Menge noch synonymisch benutzt wurden.) Der wichtigste Unterschied zu Cantors Definition ist, dass man nicht von jeder Klasse fordert, ebenfalls ein solches „Objekt unserer Anschauung und unseres Denkens“ zu sein, das in irgendwelchen Zusammenfassungen enthalten sein kann. Das heißt, es kann Klassen geben, die kein Element irgendeiner anderen Klasse sind, zum Beispiel, weil sie einfach „zu groß“ sind. Im Gegensatz zu Cantors Zeiten unterscheidet man daher heute strikt zwischen „Mengen“ und „echten Klassen“ :

Eine Klasse heißt Menge, genau dann, wenn sie Element mindestens einer beliebigen Klasse ist.

Anderenfalls heißt sie echte Klasse oder Unmenge.

In der kumulativen Typhierarchie ist eine Menge ein Element, das auf irgendeiner Stufe (und damit ebenfalls auf allen darüber liegende Stufen) liegt. Die erste Stufe, auf der eine Menge zu liegen kommt, heißt definierende Stufe. Eine Unmenge ist dagegen eine Klasse, die kein Element einer anderen Klasse ist und für die es daher auch keine definierende Stufe gibt. Für die Elemente einer Unmenge gibt es dagegen schon definierende Stufen. Es gibt allerdings keine größte dieser Stufen. Das heißt, für jedes Element einer Unmenge gibt es beliebig viele weitere Elemente der Unmenge, deren definierenden Stufen oberhalb der definierenden Stufe dieses Elements liegt.

Beispiele für Unmengen sind die Allklasse, d. h. die Klasse, die alle Mengen enthält (aber nicht alle Klassen!), sowie die Russellklasse, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Die Russellklasse enthält sich nicht selbst, da sie die Bedingung „$ \mathcal{R} $ ist eine Menge“ nicht erfüllen kann (sonst ergäbe sich sofort die Russellsche Antinomie):

$ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist eine Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R $

Wenn $ R \mbox{ ist eine Menge} $ gelten würde, ergäbe sich der Widerspruch $ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R $.

Also gilt $ \mathcal R $ ist keine Menge, sondern eine Unmenge und damit gilt (beweisbar!) $ \mathcal R \notin \mathcal R $, da eine Unmenge überhaupt kein Element irgendeiner Menge ist.

Es gibt noch Unmengen von weiteren Unmengen. :-)

Die „Klassenlehre“ hat sich bisher als sehr stabil erwiesen. Es wurden bislang keine weiteren Antinomien entdeckt und daher geht man davon aus, dass damit eine widerspruchsfreie Mengenlehre definiert wurde. Leider beweist Kurt Gödel mit seinem zweiten Unvollständigkeitssatz unter anderem auch, dass man die Widerspruchsfreiheit der zugehörigen Axiome der Mengenlehre nicht nachweisen kann.[23][24] Mit ein wenig Unsicherheit bezüglich dieser Definition müssen wir also bis in alle Zeiten leben. Vielleicht finden Sie ja eine neue Antinomie, die in den aktuellen Mengenlehre-Axiomensystemen enthalten ist. (Allerdings sollten Sie nicht Ihre Zeit damit verschwenden, da die Erfolgsaussichten doch sehr gering sind.)

Quellen

  1. Russell (1918): Bertrand Russell; The Philosophy of Logical Atomism; in: The Monist; Web-Link; 1918, 1919; Quellengüte: 5 (Artikel), S. 228
  2. 2,0 2,1 Frege (1893): Gottlob Frege; Grundgesetze der Arithmetik; Band: I; Verlag: Verlag Hermann Pohle; Adresse: Jena; Web-Link 0, Web-Link 1, Web-Link 2, Web-Link 3; 1893; Quellengüte: 5 (Buch)
  3. Russell (1903): Bertrand Russell; The Principles of Mathematics; Auflage: 2; Verlag: W. W. Norton & Company; Adresse: Berlin; Web-Link; 1903; Quellengüte: 5 (Buch)
  4. Kleene, Rosser (1935): Stephen Kleene und John Barkley Rosser; The inconsistency of certain formal logics; in: Mathematische Annalen; Band: 36; Nummer: 3; Seite(n): 630 – 636; Web-Link; 1935; Quellengüte: 5 (Artikel)
  5. Irvine, Deutsch (2014): Andrew David Irvine und Harry Deutsch; Russell's Paradox; Hrsg.: Edward N. Zalta; Reihe: The Stanford Encyclopedia of Philosophy; Auflage: Winter 2014 Edition; Hochschule: Stanford University; http://plato.stanford.edu/archives/win2014/entries/russell-paradox/; 2014; Quellengüte: 3 (Web)
  6. 6,0 6,1 6,2 6,3 Gabriel et al. (1980): Gottlob Frege; Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges; Hrsg.: Gottfried Gabriel, Friedrich Kambartel und Christian Thiel; Verlag: Meiner Felix Verlag; ISBN: 3787304827; Web-Link; 1980; Quellengüte: 5 (Buch), S. 59f, Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902
  7. Frege (1903): Gottlob Frege; Grundgesetze der Arithmetik; Band: II; Verlag: Verlag Hermann Pohle; Adresse: Jena; Web-Link 0, Web-Link 1; 1903; Quellengüte: 5 (Buch), S. 253
  8. Frege (1893), S. VII
  9. Ebbinghaus (2015): Heinz-Dieter Ebbinghaus; Ernst Zermelo – An Approach to His Life and Work; Reihe: Hochschultaschenbuch; Auflage: 2; Verlag: Springer-Verlag; Adresse: Berlin, Heidelberg; ISBN: 978-3-662-47996-4; 2015; Quellengüte: 5 (Buch)
  10. 10,0 10,1 Russell (1903): Bertrand Russell; The Principles of Mathematics; Auflage: 2; Verlag: W. W. Norton & Company; Adresse: Berlin; Web-Link; 1903; Quellengüte: 5 (Buch), §§497–500
  11. Russell (1908): Bertrand Russell; Mathematical Logic as Based on the Theory of Types; in: American Journal of Mathematics; Band: 30; Nummer: 3; Seite(n): 222–262; Verlag: The Johns Hopkins University Presss; Adresse: Baltimore; Web-Link 0, Web-Link 1; 1908; Quellengüte: 5 (Artikel), S. 236ff
  12. Zermelo (1908b): Ernst Zermelo; Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre; in: Mathematische Annalen; Band: 65; Nummer: 2; Seite(n): 261–281; Verlag: B. G. Teubner Verlag; Adresse: Leipzig; ISSN: 0025-5831 (Print), 1432-1807 (Online); Web-Link 0, Web-Link 1; 1908; Quellengüte: 5 (Artikel)
  13. Neumann (1925): John von Neumann; Eine Axiomatisierung der Mengenlehre; in: Journal für die reine und angewandte Mathematik; Band: 154; Seite(n): 219-240; ISSN: 0075-4102, 1435-5345; Web-Link 0, Web-Link 1; 1925; Quellengüte: 5 (Artikel)
  14. Church (1941): Alonzo Church; The Calculi of Lambda-Conversion; Verlag: Princeton University Press; Adresse: Princeton, New Jork; Web-Link; 1941; Quellengüte: 5 (Buch)
  15. Glubrecht, Oberschelp, Todt (1983): Jürgen-Michael Glubrecht, Arnold Oberschelp und Günter Todt; Klassenlogik; Verlag: Bibliographisches Institut; Adresse: Mannheim, Wien, Zürich; ISBN: 3-411-01634-5, 978-3411016341; 1983; Quellengüte: 5 (Buch)
  16. Zermelo (1908a): Ernst Zermelo; Neuer Beweis für die Möglichkeit einer Wohlordnung; in: Mathematische Annalen; Band: 65; Seite(n): 107–128; Verlag: Springer Nature; ISSN: 0025-5831; 1432-1807/e; Web-Link 0, Web-Link 1; 1908; Quellengüte: 5 (Artikel), Fußnote **, S. 118–119
  17. Ebbinghaus (2015): Heinz-Dieter Ebbinghaus; Ernst Zermelo – An Approach to His Life and Work; Reihe: Hochschultaschenbuch; Auflage: 2; Verlag: Springer-Verlag; Adresse: Berlin, Heidelberg; ISBN: 978-3-662-47996-4; 2015; Quellengüte: 5 (Buch)
  18. Zermelo (1908a), S. 115, S. 124
  19. Zermelo (1908b), S. 261, S. 265
  20. Brief von Cantor an Dedekind vom 30. August 1899, Zermelo (1932): Georg Cantor; Georg Cantor: Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts – Mit erläuternden Anmerkungen sowie mit Ergänzungen aus dem Briefwechsel Cantor-Dedekind; Hrsg.: Ernst Zermelo; Auflage: 1; Verlag: Springer-Verlag; Adresse: Berlin; ISBN: 978-3662002544; Web-Link; 1932; Quellengüte: 5 (Buch), S. 448
  21. Cantor (1895): Georg Cantor; Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre; in: Mathematische Annalen; Band: 46; Nummer: 4; Seite(n): 481 – 512; Verlag: B. G. Teubner Verlag; Adresse: Leipzig; ISSN: 00255831 (Papier), 14321807 (Online); Web-Link 0, Web-Link 1, Web-Link 2, Web-Link 3; 1895; Quellengüte: 5 (Artikel)
  22. Felscher (1978): W. Felscher; Naive Mengen und abstrakte Zahlen; Band: 1; Verlag: BI-Wissenschaftsverlag; Adresse: Mannheim; ISBN: 3-411-01538-1; 1978; Quellengüte: 5 (Buch)
  23. Gödel (1931): Kurt Gödel; Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I; in: Monatshefte für Mathematik und Physik; Band: 38; Nummer: 1; Seite(n): 173-198; Verlag: Springer-Verlag GmbH; Adresse: Wien; Web-Link; 1931; Quellengüte: 5 (Artikel)
  24. Schwichtenberg (2009): Helmut Schwichtenberg; Mathematical Logic; Hochschule: Ludwig-Maximilians-Universität; Adresse: München; Web-Link; 2009; Quellengüte: 5 (Skript)

Siehe auch