Russellsche Antinomie: Unterschied zwischen den Versionen

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*[[Wikipedia:Typentheorie]]
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Version vom 29. August 2012, 09:58 Uhr

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Beschreibung

Die von Cantor 1895 eigeführte Definition des Begriffs Menge als „Zusammenfassung von wohlunterscheidbaren Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“[1] führt zu einer Antinomie, d.h. auf ein logisches Paradoxon, das von Bertrand Russell irgendwann 1901 entdeckt wurde. Er schrieb seine Entdeckung am 16. Juni 1902 an Gottlob Frege.[2]

Russell definiert die Russell-Menge als die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten (er spricht von Klasse an Stelle von Menge):

„Ebenso giebt es keine Klasse (als Ganzes) derjenigen 
Klassen die als Ganze sich selber nicht angehören.“[2] 

Die Russell-Menge ist eine „Zusammenfassung von wohlunterscheidbaren Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ und damit eine Menge. Außerdem ist sie selbst ein „Objekt unseres Denkens“ und kann damit Element von anderen Mengen sein – und auch von sich selbst!

Und so stellt Russell die Frage, ob sich die Russell-Menge selbst enthält. Diese Frage führt aber zu einem Widerspruch:

Die Russell-Menge enthält sich – laut Definition der Russell-Menge – genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält. Russell bemerkt dazu:

„Daraus schliesse ich dass unter gewissen Umständen 
eine definierbare Menge kein Ganzes bildet.“[2]

Dieses Paradoxon hat die Cantorsche naive Mengenlehre in ihren Grundfesten erschüttert. Schon Frege war „auf's Höchste überrascht und [...] bestürzt“.[3]

Weitere Beispiele für die Russellsche Antinomie

  • Ein Barbier rasiert alle Männer des Ortes, die sich nicht selbst rasieren, und nur diese. Rasiert er sich selbst?
  • Ein Katalog listet alle Kataloge auf, die sich nicht selbst auflisten, und nur diese. Listet dieser Katalog sich selbst auf?

Dies war eine informelle Beschreibung der Russell-Antinomie. Im Folgenden wird eine etwas formalere Definition sowie eine möglich Lösung angegeben, die es erlaubt, eine axiomatische Mengenlehre zu definieren, die frei von der Russell-Antinomie ist. Leider kann man nicht beweisen, dass es in einer der modernen Axiomen-Systemen der Mengenlehre, und derer gibt es mehrere, keine anderen, bislang noch nicht entdeckten Antinomien gibt.[4]

Definition der „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“

[4]

Zunächst zeigt man, dass die „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“ auch ein Objekt unserer Anschauung ist und damit – nach Cantor – Element einer beliebigen Menge sein kann.

Es sei $ U $ (Universum) die Gesamtheit aller Objekte unserer Anschauung und unseres Denkens.

Ein logische Formel $ A(x) $ beschreibt bestimmte Eigenschaften von Objekten aus $ U $, indem sie für jedes Objekt $ x $ aus $ U $ den Wert wahr oder falsch als Ergebnis hat. Dabei bedeutet:

  • wahr: $ x $ hat die mit $ A(x) $ beschriebene Eigenschaft
  • falsch: $ x $ hat die mit $ A(x) $ beschriebene Eigenschaft nicht

Damit kann man nun die „Menge aller Objekte $ x $ mit der Eigenschaft $ A(x) $“ definieren: $ \{x|A(x)\} $ bezeichnet die Menge aller Objekte $ x $ aus $ U $, die die Eigenschaft $ A $ haben, d.h., für die $ A(x) $ den Wert wahr hat.

Nun kann man die Element-Beziehung $ ^{b \in \{x|A(x)\}} $ folgendermaßen definieren: $ ^{b}\, $ ist genau dann ein Element der Menge $ ^{\{x|A(x)\}}\, $, in Zeichen $ ^{b \in \{x|A(x)\}} $, wenn $ ^{A(b)}\, $ wahr ist, d.h., wenn $ ^{A(b)}\, $ den Wert wahr hat.

Beispiele

  • $ \{x|x \mbox{ ist Student an der Hochschule Augburg}\}\, $ ist die Menge aller HSA-Studenten
  • $ P = \{x|x \mbox{ ist eine Primzahl}\}\, $ ist die Menge aller Primzahlen; $ 7 \in P $, $ 8 \not\in P $
  • $ \mathbb{Q} := \{x|x \mbox{ ist eine rationale Zahl}\} $ ist die Menge der rationalen Zahlen
  • $ \mathbb{V} := \{x|x \mbox{ ist eine Menge}\} $ ist die Menge aller Mengen, $ P \in \mathbb{V} $, $ \mathbb{Q} \in \mathbb{V} $, $ \mathbb{V} \in \mathbb{V} $

Jede Menge $ \{x|A(x)\}\, $ ist also „ein Objekt unserer Anschauung“ und damit ein Objekt aus unserem Universum $ U\, $. Dabei gibt es auch Mengen, die die etwas ungewöhnliche Eigenschaft haben sich selbst zu enthalten. Zum Beispiel enthält sich die Menge $ \mathbb{V} $ selbst, da $ \mathbb{V} $– nach Cantor – die Eigenschaft erfüllt, eine Menge zu sein.

Russellsche Antinomie

Aus der Tatsache, dass es Mengen gibt, die sich selbst enthalten, und andere, bei denen dies nicht der Fall ist, ergibt sich die so genannte Russellsche Antinomie.

$ \mathcal R := \{x|x \mbox{ ist eine Menge} \wedge x \notin x\} $ ist die so genannte Russell-Menge. Sie enthält alle Mengen, die sich nicht selbst enthalten.

Es gilt z.B. $ \{x|x \mbox{ ist eine Primzahl}\} \in \mathcal R $ und $ \mathbb{Q} \in \mathcal R $, aber $ {\rm Sonne} \notin \mathcal R $ (Sonne ist keine Menge) und $ \mathbb{V} \notin \mathcal R $ ($ \mathbb{V} $ ist zwar eine Menge, enthält sich aber selbst).

Die Frage ist, ob sich die Russell-Menge selbst enthält oder nicht. Aber diese Frage kann nicht beantwortet werden, da sich die Russell-Menge genau dann selbst enthält, wenn sie eine Menge ist und sich nicht selbst enthält: $ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist ein Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R $.

Nach der Cantorschen Definition ist die Russell-Menge eine Menge. Und damit ergibt sich sofort der erwähnte Widerspruch: $ \mathcal{R} \in \mathcal{R} \Leftrightarrow \mathcal{R} \notin \mathcal{R} $.

In Worten: Die Russell-Mengen enthält sich genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.

Lösung des Problems

Kumulative Typenstruktur

Die Antinomie ergibt sich nur dann nicht, wenn die Russell-„Menge“ keine Menge ist, sondern irgendetwas anderes.

Es gab mehrere Versuche dieses „etwas anderes“ zu definieren. Eine Möglichkeit ist es, Mengen stufenweise zu definieren. Dies wurde bereits 1903 von Russell selbst vorgeschlagen.[5] Russell ging von einer Menge von Grundelementen aus, die der Stufe 0 der Typhierarchie zugeordnet sind. Die Stufe n+1 der Typhierachie ist stets die Potenzmenge der Stufe n. Diese Typhierarchie reicht aus, um große Teile der Analysis und der Mengenlehre darzustellen. Allerdings ist diese Struktur ziemlich sperrig.[6] Man kann z.B: keine Mengen der Art {1, {1,2,3}} bilden, da 1 und {1,2,3} auf unterschiedlichen Stufen liegen. Außerdem hat man einen luxoriösen Vorrat an leeren Mengen: Auf jeder Stufe gibt es eine eigene leere Menge.

Diese Probleme kann man lösen, wenn man dafür sorgt, dass jede Stufe nicht nur die Elemente der Potenzmenge der Vorgängerstufe enthält, sondern auch alle Elemente der Vorgängerstufe selbst.[6][7]

In beiden Fällen kann eine Menge n-ter Stufe kann nur Mengen aus Stufen m kleiner n enthalten. Damit gibt es keine Mengen, die sich selbst enthalten (weil ja jede Menge derselben Stufe angehört wie sie selbst). Es gibt also keine „Menge aller Mengen“ und auch keine „Russell-Menge“.

Zwei Fragen ergeben sich:

  1. Welche Elemente wählt man als Grundelemente der Stufe 0? Die Stufe 0 enthält als einzige Stufe keine Mengen.
  2. Wie viele Stufen benötigt man?

Zu 1.: Wählt man beispielsweise die natürlichen Zahlen als Elemente der Stufe 0, so ist {1,5,7} ein Element der Stufe 1 und {1,5,{5,7}} ein Element der Stufe 2:

Stufe 0: 0, 1, 2, ...
Stufe 1: {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ..., ... sowie alle Elemente der Stufe 0
Stufe 2: {{}}, {{0}}, {{1}}, ..., {{0,1}}, {{0,2}}, ..., ..., {{},{0}}, ..., {{},{0},{0,1}}, ..., ... sowie alle Elemente der Stufe 1
Stufe 3: ...

Aus rein mathematischer Sicht ist es gar nicht notwendig, irgendwelche Grundelemente zu wählen. Man erhält auch ohne sie genug Objekte (nämlich Mengen), die man mit den übrigen Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens identifizieren kann:

Stufe 0: -
Stufe 1: {}
Stufe 2: {}, {{}}
Stufe 3: {}, {{}}, {{{}}}, {{},{{}}}
Stufe 4: ...

Diese Alternative wird heute i. Allg. bevorzugt, da man dann bei Beweisen auf Fallunterscheideungen der Art „Falls x Grundelement ist ..., anderenfalls ...“ verzichten kann.

Zu 2.: Die ursprüngliche kumulative Struktur von Russell hatte abzählbar viele Stufen. Allerdings kann und sollte man darüber hinausgehen, wenn man überanzählbare Mengen (wie z.B. die Menge der reellen Zahlen beschreiben können will). Dazu wendet man das so genannte Shoenfield-Prinzip an.[7] Dieses Prinzip ist zwar etwas schwammig formuliert, aber beschreibt die Fortführung der Stufen doch ganz anschaulich:

„Man betrachte eine Gesamtheit S von Stufen. 
 Kann man sich eine Situation vorstellen, 
 in der alle Stufen aus S konstruiert sind, 
 so soll es eine Stufe geben, 
 die nach allen Stufen aus S kommt.“[8]  

Dieses Prinzip wird z.B. auch bei der transfiniten Induktion und den Ordinalzahlen verwendet. Es besagt, dass nach unendlich vielen Schritten jeweils ein weiterer kommt, der die Ergebnisse dieser unendliche vielen Schritte zusammenfasst.

Das Universum aller Mengen, das auf diese Weise definiert wurde, heißt kumulative Typenstruktur.[7]

Allerdings formalisiert man heute die Mengenlehre i. Allg. nicht mehr auf diese Weise, sondern führt mit Hilfe von allgemeineren Axiomen (siehe z.B. Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre, Neumann-Bernays-Gödel-Mengenlehre) Mengen und Klassen ein und kann dann für die meisten dieser Axiome zeigen, dass die kumulative Typenstruktur diese Axiome erfüllt.[4] Das heißt, die kumulative Typenstruktur kann in vielen Fällen als anschauliches Modell dienen.

Klassen

Man nennt „Zusammenfassungen von bestimmten Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ zunächst einmal Klasse und nicht Menge. Der wichtigste Untersched zu Cantors Definition ist, dass man nicht von jeder Klasse fordert, ebenfalls ein solches „Objekt unserer Anschauung und unseres Denkens“ zu sein. Das heißt, es kann Klassen geben, die kein Element irgendeiner anderen Klasse sind.

Daher kann man zwei spezielle Arten von Klassen unterscheiden: die so genannten Mengen und die so genannten Unmengen oder echten Klassen.

Eine Klasse heißt Menge, genau dann wenn sie Element einer anderen Klasse ist. In der kumulativen Typenstruktur ist eine Menge ein Element, das auf irgendeiner Stufe liegt. Eine Unmenge ist dagegen eine Klasse, die kein Element einer anderen Klasse ist und damit auch in keiner der obigen Stufen enthalten ist. Eine Unmengen enthält Elemente von fast allen Stufen der kumulativen Typhierarchie, d.h. es gibt keine Stufen in dieser Hierarchie, oberhalb der eine Unmenge keine Elemente mehr enthalten würde.

Beipiele für Unmengen sind die Allklasse, d.h. die Klasse, die alle Mengen enthält (aber nicht alle Klassen!), sowie die Russell-Klasse, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Die Russell-Klasse enthält sich nicht selbst, da sie die Bedingung „$ \mathcal{R} $ ist eine Menge“ nicht erfüllen kann (sonst ergäbe sich sofort die Russellsche Antinomie):

$ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist eine Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R $

Wenn $ R \mbox{ ist eine Menge}\, $ gelten würde, ergibt sich der Widerspruch $ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R $.

Also gilt $ \mathcal R\; $ ist keine Menge, sondern eine Unmenge und damit $ \mathcal R \notin \mathcal R $, da eine Ummenge überhaupt kein Element irgendeiner Menge ist.

Es gibt noch Unmengen von weiteren Unmengen. :-)

Diese so genannte „Klassentheorie“ hat sich bisher als sehr stabil erwiesen. Es wurden keine weiteren Antinomien entdeckt und daher geht man davon aus, dass damit eine widerspruchsfreie Mengenlehre definiert wurde. Leider kann man aber beweisen, dass man die Widerspruchsfreiheit der zugehörigen Axiome der Mengenlehre nicht nachweisen kann.[4] Mit ein wenig Unsicherheit bezüglich dieser Definition müssen wir also bis in alle Zeiten leben. Vielleicht finden Sie ja eine neue Antinomie, die in dieser Definition enthalten ist. (Allerdings sollten Sie nicht Ihre Zeit damit verschwenden, da die Erfolgsaussichten doch sehr gering sind.)

Quelle

  1. Cantor (1895): Georg Cantor; Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre; in: Mathematische Annalen; Band: 46; Nummer: 4; Seite(n): 481 – 512; Verlag: B. G. Teubner Verlag; Adresse: Leipzig; ISSN: 00255831 (Papier), 14321807 (Online); Web-Link 0, Web-Link 1, Web-Link 2, Web-Link 3; 1895; Quellengüte: 5 (Artikel)
  2. 2,0 2,1 2,2 Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902. In: Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell, sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges, Hrsg. G. Gabriel, Hamburg 1980, S. 59f, http://books.google.de/books?id=LH0I5fSzhtkC&pg=PA59#v=onepage&q=&f=false
  3. Brief von Frege an Russell vom 22. Juni 1902. In: Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell, sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges, Hrsg. G. Gabriel, Hamburg 1980, S. 60f, http://books.google.de/books?id=LH0I5fSzhtkC&pg=PA60#v=onepage&q=&f=false
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 GlossarWiki:Quelle fehlt
  5. Bertrand Russell: The principles of Mathematics, Cambridge 1903, §§497-500.
  6. 6,0 6,1 Walter Felscher, Naive Mengen und abstrakte Zahlen I, B I Wissenschaftsverlag, 1978
  7. 7,0 7,1 7,2 Schwichtenberg (2000): Helmut Schwichtenberg; Mathematische Logik; Hochschule: Ludwig-Maximilians-Universität; Adresse: München; Web-Link; 2000; Quellengüte: 5 (Skript)
  8. Shoenfield (1967): Joseph R. Shoenfield; Mathematical Logic; Verlag: Addison-Wesley; Adresse: Reading, Massachusetts; ISBN: 0201070286; 1967; Quellengüte: 5 (Buch)

Siehe auch

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