Russellsche Antinomie

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Beschreibung

Die von Georg Cantor 1895 eigeführte Definition des Begriffs Menge als „Zusammenfassung von wohlunterscheidbaren Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“[1] führt zu einer Antinomie, d.h. auf ein logisches Paradoxon, das von Bertrand Russell irgendwann 1901 oder 1902 entdeckt wurde. Er schrieb seine Entdeckung am 16. Juni 1902 an Gottlob Frege.[2]

Russell definiert die Russell-Menge als die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten (er spricht von Klasse an Stelle von Menge):

Ebenso giebt es keine Klasse (als Ganzes) derjenigen Klassen die als Ganze sich selber nicht angehören.[2]

Die Russell-Menge ist eine „Zusammenfassung von wohlunterscheidbaren Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ und damit – gemäß Cantors Definition – eine Menge. Außerdem ist sie selbst ein „Objekt unseres Denkens“ und kann damit Element von anderen Mengen sein – und auch von sich selbst!

Und so stellt Russell die Frage, ob sich die Russell-Menge selbst enthält. Diese Frage führt aber zu einem Widerspruch:

Die Russell-Menge enthält sich – laut Definition der Russell-Menge – genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält. Russell bemerkt dazu:

Daraus schliesse ich dass unter gewissen Umständen eine definierbare Menge kein Ganzes bildet.[2]

Dieses Paradoxon hat die Cantorsche Mengenlehre in ihren Grundfesten erschüttert. Schon Frege war „auf's Höchste überrascht und [...] bestürzt“.[2]

Weitere Beispiele für die Russellsche Antinomie

  • Ein Barbier rasiert alle Männer des Ortes, die sich nicht selbst rasieren, und nur diese. Rasiert er sich selbst?
  • Ein Katalog listet alle Kataloge auf, die sich nicht selbst auflisten, und nur diese. Listet dieser Katalog sich selbst auf?

Definition der „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“

Oben wurde Russellsche Antinomie informell beschrieben. Im Folgende wird das PRoblem auf etwas formalerer Ebene beleuchtet.

Zunächst zeigt man, dass die „Menge aller Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft“ auch ein Objekt unserer Anschauung ist und damit – nach Cantor – Element einer beliebigen Menge sein kann.

Es sei $U$ (Universum) die Gesamtheit aller Objekte unserer Anschauung und unseres Denkens.

Ein logische Formel $A(x)$ beschreibt bestimmte Eigenschaften von Objekten aus $U$, indem sie für jedes Objekt $x$ aus $U$ den Wert wahr oder falsch als Ergebnis hat. Dabei bedeutet:

  • wahr: $x$ hat die mit $A(x)$ beschriebene Eigenschaft
  • falsch: $x$ hat die mit $A(x)$ beschriebene Eigenschaft nicht

Damit kann man nun die „Menge aller Objekte $x$ mit der Eigenschaft $A(x)$“ definieren: $\{x|A(x)\}$ bezeichnet die Menge aller Objekte $x$ aus $U$, die die Eigenschaft $A$ haben, d.h., für die $A(x)$ den Wert wahr hat.

Nun kann man die Element-Beziehung $b \in \{x|A(x)\}$ folgendermaßen definieren: $b$ ist genau dann ein Element der Menge $\{x|A(x)\}$, in Zeichen $b \in \{x|A(x)\}$, wenn $A(b)$ wahr ist, d.h., wenn $A(b)$ den Wert wahr hat.

Beispiele

  • $\{x|x \mbox{ ist Student an der Hochschule Augburg}\}$ ist die Menge aller HSA-Studenten
  • $P = \{x|x \mbox{ ist eine Primzahl}\}$ ist die Menge aller Primzahlen; $7 \in P$, $8 \not\in P$
  • $\mathbb{Q} := \{x|x \mbox{ ist eine rationale Zahl}\}$ ist die Menge der rationalen Zahlen
  • $\mathcal{V} := \{x|x \mbox{ ist eine Menge}\}$ ist die Menge aller Mengen, $P \in \mathcal{V}$, $\mathbb{Q} \in \mathcal{V}$, $\mathcal{V} \in \mathcal{V}$

Jede Menge $\{x|A(x)\}$ ist also „ein Objekt unserer Anschauung“ und damit ein Objekt aus unserem Universum $U$. Dabei gibt es auch Mengen, die die etwas ungewöhnliche Eigenschaft haben, sich selbst zu enthalten. Zum Beispiel enthält sich die Menge $\mathcal{V}$ selbst, da $\mathcal{V}$ – nach Cantor – die Eigenschaft erfüllt, eine Menge zu sein.

Russellsche Antinomie

Aus der Tatsache, dass es Mengen geben kann, die sich selbst enthalten, und andere, bei denen dies nicht der Fall ist, ergibt sich die so genannte Russellsche Antinomie.

$\mathcal R := \{x|x \mbox{ ist eine Menge} \wedge x \notin x\}$ ist die so genannte Russell-Menge. Sie enthält alle Mengen, die sich nicht selbst enthalten.

Es gilt z.B. $\{x|x \mbox{ ist eine Primzahl}\} \in \mathcal R$ und $\mathbb{Q} \in \mathcal R$, aber ${\rm Sonne} \notin \mathcal R$ (Sonne ist keine Menge) und $\mathcal{V} \notin \mathcal R$ ($\mathcal{V}$ ist zwar eine Menge, enthält sich aber selbst).

Die Frage ist, ob sich die Russell-Menge selbst enthält oder nicht. Aber diese Frage kann nicht beantwortet werden, da sich die Russell-Menge genau dann selbst enthält, wenn sie eine Menge ist und sich nicht selbst enthält: $\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist ein Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R$.

Nach der Cantorschen Definition ist die Russell-Menge eine Menge. Und damit ergibt sich sofort der erwähnte Widerspruch: $\mathcal{R} \in \mathcal{R} \Leftrightarrow \mathcal{R} \notin \mathcal{R}$.

In Worten: Die Russell-Mengen enthält sich genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.

Mengen, die sich selbst enthalten

Man beachte, dass Mengen, die sich selbst enthalten, nicht so selten und exotisch sind, wie man rein intuitiv vermuten würde. In der Informatik kommen sie sogar recht häufig vor: Immer, wenn man Objekte so miteinander verkettet, dass ein geschlossener Weg entsteht, hat man im Prinzip eine Menge definiert, die sich selbst enthält.

Beispiel in JavaScript

Source: http://glossar.hs-augsburg.de/beispiel/javascript/sample_self_containment/WebContent/

var tuple = {a: 123, b: "foo"}; 
tuple.c = tuple;

Das Objekt tuple enthält sich selbst, wie man ganz leicht nachprüfen kann. Folgende Befehle geben alle den Wert 123 auf der Konsole aus.

console.log(tuple.a);
console.log(tuple.c.a);
console.log(tuple.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.c.c.a);
console.log(tuple.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.c.a);

Es gilt also:

tuple == tupel.c == tupel.c.c == tupel.c.c.c == ... == 
{a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: {a: 123, b: "foo", c: ...}}}}

Man beachte, dass jedes JavaScript-Objekt als ein Tupel in Attributnotation, d.h., als eine spezielle Menge aufgefasst werden kann. Das heißt, man kann die obige Aussage auch folgendermaßen formulieren:

Die Menge tupel enthält sich selbst.

Zyklenhasltige Graphen kommen in der Informatik recht häufig vor:

  • Ringlisten
  • doppelt verkettete Listen
  • Netzpläne
  • Graphen, wie z.B.
    • World Wide Web
    • Netzplan der Deutschen Bahn (hier kann man beliebig oft im „Kreis fahren“, bevor man ans Ziel gelangt)
  • etc.

Lösung des Problems

Kumulative Typenstruktur

Die Antinomie ergibt sich nur dann nicht, wenn die Russell-„Menge“ keine Menge ist, sondern irgendetwas anderes.

Es gab mehrere Versuche dieses „etwas anderes“ zu definieren. Eine Möglichkeit ist es, Mengen stufenweise zu definieren. Dies wurde bereits 1903 von Russell selbst vorgeschlagen.[3] Russell ging von einer Menge von Grundelementen aus, die der Stufe 0 der Typhierarchie zugeordnet sind. Die Stufe n+1 der Typhierachie ist stets die Potenzmenge der Stufe n.

Diese Struktur ist allerdings ziemlich sperrig. Man kann z.B: keine Mengen der Art {1, {1,2,3}} bilden, da 1 und {1,2,3} auf unterschiedlichen Stufen liegen. Diese Probleme kann man lösen, wenn man dafür sorgt, dass jede Stufe nicht nur die Elemente der Potenzmenge der Vorgängerstufe enthält, sondern auch alle Elemente der Vorgängerstufe selbst. (Details: siehe Kumulative Typenstruktur)

In beiden Fällen kann eine Menge n-ter Stufe kann nur Mengen aus Stufen m kleiner n enthalten. Damit gibt es keine Mengen, die sich selbst enthalten (weil ja jede Menge derselben Stufe angehört wie sie selbst). Es gibt also keine „Menge aller Mengen“ und damit auch keine „Russell-Menge“.

Klassen

Eine weitere Möglichkeit, dass Russell-Paradoxon zu vermeiden, ist, zwischen Mengen und Unmengen zu unterscheiden.

Man nennt „Zusammenfassungen von bestimmten Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ zunächst einmal Klasse und nicht Menge. Der wichtigste Untersched zu Cantors Definition ist, dass man nicht von jeder Klasse fordert, ebenfalls ein solches „Objekt unserer Anschauung und unseres Denkens“ zu sein, das in irgendwelchen Zusammenfassungen enthalten sein kann. Das heißt, es kann Klassen geben, die kein Element irgendeiner anderen Klasse sind, zum Beispiel, weil sie einfach „zu groß“ sind. Daher kann man zwei spezielle Arten von Klassen unterscheiden: die so genannten Mengen und die so genannten Unmengen oder echten Klassen.

Eine Klasse heißt Menge, genau dann wenn sie Element einer anderen Klasse ist. In der kumulativen Typenstruktur ist eine Menge ein Element, das auf irgendeiner Stufe liegt. Eine Unmenge ist dagegen eine Klasse, die kein Element einer anderen Klasse ist und damit auch in keiner der obigen Stufen enthalten ist. Eine Unmenge enthält Elemente von fast allen Stufen der kumulativen Typhierarchie, d.h. es gibt keine Stufen in dieser Hierarchie, oberhalb der eine Unmenge keine Elemente mehr enthalten würde.

Beipiele für Unmengen sind die Allklasse, d.h. die Klasse, die alle Mengen enthält (aber nicht alle Klassen!), sowie die Russell-Klasse, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Die Russell-Klasse enthält sich nicht selbst, da sie die Bedingung „$\mathcal{R}$ ist eine Menge“ nicht erfüllen kann (sonst ergäbe sich sofort die Russellsche Antinomie):

$\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist eine Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R$

Wenn $R \mbox{ ist eine Menge}$ gelten würde, ergibt sich der Widerspruch $\mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R$.

Also gilt $\mathcal R$ ist keine Menge, sondern eine Unmenge und damit $\mathcal R \notin \mathcal R$, da eine Ummenge überhaupt kein Element irgendeiner Menge ist.

Es gibt noch Unmengen von weiteren Unmengen. :-)

Diese so genannte „Klassentheorie“ hat sich bisher als sehr stabil erwiesen. Es wurden keine weiteren Antinomien entdeckt und daher geht man davon aus, dass damit eine widerspruchsfreie Mengenlehre definiert wurde. Leider beweist Kurt Gödel mit seinem zweiten Unvollständigkeitssatz unter anderem auch, dass man die Widerspruchsfreiheit der zugehörigen Axiome der Mengenlehre nicht nachweisen kann[4][5] Mit ein wenig Unsicherheit bezüglich dieser Definition müssen wir also bis in alle Zeiten leben. Vielleicht finden Sie ja eine neue Antinomie, die in dieser Definition enthalten ist. (Allerdings sollten Sie nicht Ihre Zeit damit verschwenden, da die Erfolgsaussichten doch sehr gering sind.)

Quelle

  1. Cantor (1895): Georg Cantor; Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre; in: Mathematische Annalen; Band: 46; Nummer: 4; Seite(n): 481 – 512; Verlag: B. G. Teubner Verlag; Adresse: Leipzig; ISSN: 00255831 (Papier), 14321807 (Online); Web-Link 0, Web-Link 1, Web-Link 2, Web-Link 3; 1895; Quellengüte: 5 (Artikel)
  2. 2,0 2,1 2,2 2,3 Gabriel et al. (1980): Gottlob Frege; Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges; Hrsg.: Gottfried Gabriel, Friedrich Kambartel und Christian Thiel; Verlag: Meiner Felix Verlag; ISBN: 3787304827; Web-Link; 1980; Quellengüte: 5 (Buch), S. 59f, Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902 Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „Brief an Frege“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  3. Bertrand Russell: The principles of Mathematics, Cambridge 1903, §§497-500.
  4. Gödel (1931): Kurt Gödel; Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I; in: Monatshefte für Mathematik und Physik; Band: 38; Nummer: 1; Seite(n): 173-198; Verlag: Springer-Verlag GmbH; Adresse: Wien; Web-Link; 1931; Quellengüte: 5 (Artikel)
  5. Schwichtenberg (2009): Helmut Schwichtenberg; Mathematical Logic; Hochschule: Ludwig-Maximilians-Universität; Adresse: München; Web-Link; 2009; Quellengüte: 5 (Skript)

Siehe auch