Russellsche Antinomie: Unterschied zwischen den Versionen

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Diese Entdeckung führte zur [[Grundlagenkrise der Mathematik]].
Diese Entdeckung führte zur [[Grundlagenkrise der Mathematik]].


Die sogenannte Russellmenge <math>\mathcal R := \{x \notin x\}</math> ist eine derartige Menge.
Die sogenannte Russellklasse <math>\mathcal R := \{x \notin x\}</math> ist eine derartige „Menge“.
Sie kann nicht existieren, da nicht geklärt werden kann, ob <math>\mathcal R</math> sich selbst enthält oder nicht.
Sie kann (als Menge) nicht existieren, da nicht geklärt werden kann, ob <math>\mathcal R</math> sich selbst enthält oder nicht.
Um zu bestimmen, ob <math>\mathcal R  \in \mathcal R</math> gilt, muss man <math>\mathcal R</math> als Wert für <math>x</math> in die Definition einsetzen
Um zu bestimmen, ob <math>\mathcal R  \in \mathcal R</math> gilt, muss man <math>\mathcal R</math> als Wert für <math>x</math> in die Definition einsetzen
und erhält folgenden Widerspruch: <math>\mathcal R</math> enthält sich genau dann, wenn sich <math>\mathcal R</math> nicht enthält:
und erhält folgenden Widerspruch: <math>\mathcal R</math> enthält sich genau dann, wenn sich <math>\mathcal R</math> nicht enthält:
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Russell schrieb seine Entdeckung am 16. Juni [[1902]] an Frege.<ref name="Brief an Frege">{{Quelle|Gabriel et al. (1980)}}, S. 59f, Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902</ref>
Russell schrieb seine Entdeckung am 16. Juni [[1902]] an Frege.<ref name="Brief an Frege">{{Quelle|Gabriel et al. (1980)}}, S. 59f, Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902</ref>


Russell definiert die '''Russellmenge''' – wie diese Menge heute genannt wird – als die '''Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten''':
Russell definiert die '''Russellklasse''' – wie diese Klasse heute genannt wird – als die '''Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst enthalten''' (damals hat man noch 
keinen Unterschied zwischen ''Klassen'' und ''Mengen'' gemacht; diese Unterscheidung wurde erst später gemacht, um die Russellsche Antinomie zu vermeiden):


{{Quote|Ebenso giebt es keine Klasse (als Ganzes) derjenigen  
{{Quote|Ebenso giebt es keine Klasse (als Ganzes) derjenigen  
Klassen die als Ganze sich selber nicht angehören.<ref name="Brief an Frege"/>  
Klassen die als Ganze sich selber nicht angehören.<ref name="Brief an Frege"/>  


<em>(Anm.: Russell verwendet die Begriffe „{{Klasse}}“ und „{{Menge}}“ noch synonymisch.
Die Russellklasse ist gemäß Freges Axiomensystem eine Menge und kann außerdem Element von anderen Mengen sein evtl. sogar von sich selbst!
Heute wird dagegen – wegen der Russellschen Antinomie {{iAllg}} streng zwischen beiden Begriffen unterschieden.)</em>}}


Die Russellmenge ist gemäß Freges Axiomensystem eine Menge und kann außerdem Element von anderen Mengen sein – evtl. sogar von sich selbst!
Und so stellt Russell die Frage, ob sich die Russellklasse selbst enthält. Diese Frage führt aber zu einem Widerspruch:


Und so stellt Russell die Frage, ob sich die Russellmenge selbst enthält. Diese Frage führt aber zu einem Widerspruch:
'''Die Russellklasse enthält sich''' – laut Definition der Russellklasse – '''genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.''' Russell bemerkt dazu:
 
'''Die Russellmenge enthält sich''' – laut Definition der Russellmenge – '''genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.''' Russell bemerkt dazu:


{{Quote|Daraus schliesse ich dass unter gewissen Umständen  
{{Quote|Daraus schliesse ich dass unter gewissen Umständen  
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<div class="quote">Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung <math>M</math> von ''bestimmten'' wohlunterscheidbaren Objecten <math>m</math> unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die [[Element]]e von <math>M</math> genannt werden) zu einem Ganzen.<ref>{{Quelle|Cantor (1895)}}</ref>
<div class="quote">Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung <math>M</math> von ''bestimmten'' wohlunterscheidbaren Objecten <math>m</math> unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die [[Element]]e von <math>M</math> genannt werden) zu einem Ganzen.<ref>{{Quelle|Cantor (1895)}}</ref>
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naiv interpretiert (was Cantor selbst allerdings nicht tat; vgl. Kapitel [[Menge#Cantors_Definitionen_und_Antinomien|Cantors Definitionen und Antinomien]] im Artikel {{Menge}}), ist die Russellmenge ein ''wohlunterscheidbares Object unseres Denkens'' und damit eine Menge. Und damit ergibt sich sofort der erwähnte Widerspruch:  
naiv interpretiert (was Cantor selbst allerdings nicht tat; vgl. Kapitel [[Menge#Cantors_Definitionen_und_Antinomien|Cantors Definitionen und Antinomien]] im Artikel {{Menge}}), ist die Russellklasse ein ''wohlunterscheidbares Object unseres Denkens'' und damit eine Menge. Und damit ergibt sich sofort der erwähnte Widerspruch:  


<div class="formula"><math>\mathcal{R} \in \mathcal{R} \Leftrightarrow  \mathcal{R} \notin \mathcal{R}</math></div>
<div class="formula"><math>\mathcal{R} \in \mathcal{R} \Leftrightarrow  \mathcal{R} \notin \mathcal{R}</math></div>


In Worten: Die Russellmenge enthält sich genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.
In Worten: Die Russellklasse enthält sich genau dann selbst, wenn sie sich nicht selbst enthält.


===Vermeidung des Russell-Paradoxons===
===Vermeidung des Russell-Paradoxons===

Version vom 29. Mai 2019, 20:01 Uhr

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Im Jahr 1901 entdeckten Bertrand Russell und Ernst Zermelo unabhängig voneinander dass ein naiver Mengenbegriff es ermöglicht, widerspruchsvolle Mengen zu definieren, die nicht existieren können. Diese Entdeckung führte zur Grundlagenkrise der Mathematik.

Die sogenannte Russellklasse $ \mathcal R := \{x \notin x\} $ ist eine derartige „Menge“. Sie kann (als Menge) nicht existieren, da nicht geklärt werden kann, ob $ \mathcal R $ sich selbst enthält oder nicht. Um zu bestimmen, ob $ \mathcal R \in \mathcal R $ gilt, muss man $ \mathcal R $ als Wert für $ x $ in die Definition einsetzen und erhält folgenden Widerspruch: $ \mathcal R $ enthält sich genau dann, wenn sich $ \mathcal R $ nicht enthält:

$ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R $

Informelle Beschreibung der Russellschen Antinomie

Der von Bolzano, Frege, Dedekind und anderen geprägte „naive“ Mengebegriff führt zu einer Antinomie. Dieses logische Paradoxon wurde um 1901 unabhängig voneinander von Bertrand Russell und Ernst Zermelo im Axiomensystem von Frege[1] entdeckt.[2][3] Russell schrieb seine Entdeckung am 16. Juni 1902 an Frege.[4]

Russell definiert die Russellklasse – wie diese Klasse heute genannt wird – als die Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst enthalten (damals hat man noch keinen Unterschied zwischen Klassen und Mengen gemacht; diese Unterscheidung wurde erst später gemacht, um die Russellsche Antinomie zu vermeiden):

bilden,

da 1 und {1,2,3} auf unterschiedlichen Stufen liegen. Diese Probleme kann man lösen, wenn man dafür sorgt, dass jede Stufe nicht nur die Elemente der Potenzmenge der Vorgängerstufe enthält, sondern auch alle Elemente der Vorgängerstufe selbst.

Stufe 0: 0, 1, 2, ... (irgendwelche Grundelemente, die keine Mengen sind)
Stufe 1: 0, 1, 2, ..., {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ...
Stufe 2: 0, 1, 2, ..., {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ..., {{}}, {{}, 0}, {{}, 1}, ..., {{}, {0}}, {{}, 0, {0}}, ..., ...
Stufe 3: ...

Diese Ebenenstruktur wird Kumulative Typhierarchie) genannt.[9] In beiden Fällen kann eine Menge $ n $-ter Stufe kann nur Mengen aus Stufen $ m $ kleiner $ n $ enthalten. Damit gibt es keine Mengen, die sich selbst enthalten (weil ja jede Menge derselben Stufe angehört wie sie selbst). Es gibt also keine „Menge aller Mengen“ und auch keine „Russellmenge“.

Klassen

Die modernere Klassenlehre verhindert die Definition von $ \mathcal{R} $ nicht vollständig. Sie verhindert allerdings, dass eine Menge $ \mathcal{R} $ definiert werden kann. $ \mathcal{R} $ wird hier als Unmenge oder echte Klasse bezeichnet.

Man nennt eine „Zusammenfassung von bestimmten Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ zunächst einmal Klasse und nicht Menge. (Man beachte, dass zu Zeiten von Cantor, Russell und Co, die Begriffe Klasse und Menge noch synonymisch benutzt wurden.) Der wichtigste Unterschied zu Cantors Definition ist, dass man nicht von jeder Klasse fordert, ebenfalls ein solches „Objekt unserer Anschauung und unseres Denkens“ zu sein, das in irgendwelchen Zusammenfassungen enthalten sein kann. Das heißt, es kann Klassen geben, die kein Element irgendeiner anderen Klasse sind, zum Beispiel, weil sie einfach „zu groß“ sind. Im Gegensatz zu Cantors Zeiten unterscheidet man daher heute strikt zwischen „Mengen“ und „echten Klassen“ :

Eine Klasse heißt Menge, genau dann, wenn sie Element mindestens einer beliebigen Klasse ist.

Anderenfalls heißt sie echte Klasse oder Unmenge.

In der kumulativen Typhierarchie ist eine Menge ein Element, das auf irgendeiner Stufe (und damit ebenfalls auf allen darüber liegende Stufen) liegt. Die erste Stufe, auf der eine Menge zu liegen kommt, heißt definierende Stufe. Eine Unmenge ist dagegen eine Klasse, die kein Element einer anderen Klasse ist und für die es daher auch keine definierende Stufe gibt. Für die Elemente einer Unmenge gibt es dagegen schon definierende Stufen. Es gibt allerdings keine größte dieser Stufen. Das heißt, für jedes Element einer Unmenge gibt es beliebig viele weitere Elemente der Unmenge, deren definierenden Stufen oberhalb der definierenden Stufe dieses Elements liegt.

Beispiele für Unmengen sind die Allklasse, d.h. die Klasse, die alle Mengen enthält (aber nicht alle Klassen!), sowie die Russellklasse, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Die Russellklasse enthält sich nicht selbst, da sie die Bedingung „$ \mathcal{R} $ ist eine Menge“ nicht erfüllen kann (sonst ergäbe sich sofort die Russellsche Antinomie):

$ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist eine Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R $

Wenn $ R \mbox{ ist eine Menge} $ gelten würde, ergäbe sich der Widerspruch $ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R $.

Also gilt $ \mathcal R $ ist keine Menge, sondern eine Unmenge und damit gilt (beweisbar!) $ \mathcal R \notin \mathcal R $, da eine Unmenge überhaupt kein Element irgendeiner Menge ist.

Es gibt noch Unmengen von weiteren Unmengen. :-)

Die „Klassenlehre“ hat sich bisher als sehr stabil erwiesen. Es wurden bislang keine weiteren Antinomien entdeckt und daher geht man davon aus, dass damit eine widerspruchsfreie Mengenlehre definiert wurde. Leider beweist Kurt Gödel mit seinem zweiten Unvollständigkeitssatz unter anderem auch, dass man die Widerspruchsfreiheit der zugehörigen Axiome der Mengenlehre nicht nachweisen kann.[10][11] Mit ein wenig Unsicherheit bezüglich dieser Definition müssen wir also bis in alle Zeiten leben. Vielleicht finden Sie ja eine neue Antinomie, die in den aktuellen Mengenlehre-Axiomensystemen enthalten ist. (Allerdings sollten Sie nicht Ihre Zeit damit verschwenden, da die Erfolgsaussichten doch sehr gering sind.)

Quellen

  1. Frege (1893): Gottlob Frege; Grundgesetze der Arithmetik; Band: I; Verlag: Verlag Hermann Pohle; Adresse: Jena; Web-Link 0, Web-Link 1, Web-Link 2, Web-Link 3; 1893; Quellengüte: 5 (Buch)
  2. Ebbinghaus (2015): Heinz-Dieter Ebbinghaus; Ernst Zermelo – An Approach to His Life and Work; Reihe: Hochschultaschenbuch; Auflage: 2; Verlag: Springer-Verlag; Adresse: Berlin, Heidelberg; ISBN: 978-3-662-47996-4; 2015; Quellengüte: 5 (Buch)
  3. Irvine, Deutsch (2014): Andrew David Irvine und Harry Deutsch; Russell's Paradox; Hrsg.: Edward N. Zalta; Reihe: The Stanford Encyclopedia of Philosophy; Auflage: Winter 2014 Edition; Hochschule: Stanford University; http://plato.stanford.edu/archives/win2014/entries/russell-paradox/; 2014; Quellengüte: 3 (Web)
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 Gabriel et al. (1980): Gottlob Frege; Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges; Hrsg.: Gottfried Gabriel, Friedrich Kambartel und Christian Thiel; Verlag: Meiner Felix Verlag; ISBN: 3787304827; Web-Link; 1980; Quellengüte: 5 (Buch), S. 59f, Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902
  5. Frege (1903): Gottlob Frege; Grundgesetze der Arithmetik; Band: II; Verlag: Verlag Hermann Pohle; Adresse: Jena; Web-Link 0, Web-Link 1; 1903; Quellengüte: 5 (Buch), S. 253
  6. Frege (1893), S. VII
  7. Russell (1918): Bertrand Russell; The Philosophy of Logical Atomism; in: The Monist; Web-Link; 1918, 1919; Quellengüte: 5 (Artikel), S. 228
  8. Brief von Cantor an Dedekind vom 30. August 1899, Zermelo (1932): Georg Cantor; Georg Cantor: Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts – Mit erläuternden Anmerkungen sowie mit Ergänzungen aus dem Briefwechsel Cantor-Dedekind; Hrsg.: Ernst Zermelo; Auflage: 1; Verlag: Springer-Verlag; Adresse: Berlin; ISBN: 978-3662002544; Web-Link; 1932; Quellengüte: 5 (Buch), S. 448
  9. Felscher (1978): W. Felscher; Naive Mengen und abstrakte Zahlen; Band: 1; Verlag: BI-Wissenschaftsverlag; Adresse: Mannheim; ISBN: 3-411-01538-1; 1978; Quellengüte: 5 (Buch)
  10. Gödel (1931): Kurt Gödel; Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I; in: Monatshefte für Mathematik und Physik; Band: 38; Nummer: 1; Seite(n): 173-198; Verlag: Springer-Verlag GmbH; Adresse: Wien; Web-Link; 1931; Quellengüte: 5 (Artikel)
  11. Schwichtenberg (2009): Helmut Schwichtenberg; Mathematical Logic; Hochschule: Ludwig-Maximilians-Universität; Adresse: München; Web-Link; 2009; Quellengüte: 5 (Skript)

Siehe auch