Russellsche Antinomie: Unterschied zwischen den Versionen

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dass ein naiver Mengenbegriff es ermöglicht, widerspruchsvolle Mengen zu definieren, die nicht existieren können.
dass ein naiver Mengenbegriff es ermöglicht, widerspruchsvolle „Mengen“ zu definieren, die nicht existieren können.
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Die sogenannte Russellklasse <math>\mathcal R := \{x \notin x\}</math> ist eine derartige „Menge“.
Eine derartige „Menge“ ist die sogenannte Russellklasse <math>\mathcal R := \{x|x \notin x\}</math>. Sie definiert der „Menge“ aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten.
Sie kann (als Menge) nicht existieren, da nicht geklärt werden kann, ob <math>\mathcal R</math> sich selbst enthält oder nicht.
Als Menge kann sie nicht existieren, da nicht geklärt werden kann, ob <math>\mathcal R</math> sich selbst enthält oder nicht.
Um zu bestimmen, ob <math>\mathcal R  \in \mathcal R</math> gilt, muss man <math>\mathcal R</math> als Wert für <math>x</math> in die Definition einsetzen
 
und erhält folgenden Widerspruch: <math>\mathcal R</math> enthält sich genau dann, wenn sich <math>\mathcal R</math> nicht enthält:
Um zu bestimmen, ob <math>\mathcal R</math> ein Element  <math>a</math> enthält, {{dh}} ob <math>a \in \mathcal R</math> gilt, muss man <math>a</math> als Wert für <math>x</math> in die Definition einsetzen. Daraus leitet sich folgende Bedingung ab:
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Um zu bestimmen, ob <math>\mathcal R</math> sich selbst enthält, {{dh}} ob <math>\mathcal R  \in \mathcal R</math> gilt, muss man also <math>\mathcal R</math> als Wert für <math>x</math> in die Definition einsetzen und erhält damit folgenden Widerspruch:
 
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<math>\mathcal R</math> enthält sich genau dann, wenn sich <math>\mathcal R</math> nicht enthält
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==Informelle Beschreibung der Russellschen Antinomie==
==Informelle Beschreibung der Russellschen Antinomie==


Der von [[Bernard Bolzano|Bolzano]], [[Gottlob Frege|Frege]], [[Richard Dedekind|Dedekind]] und anderen geprägte „naive“ {{Menge}}begriff  führt zu einer [[Antinomie]].  
Der von [[Bernard Bolzano|Bolzano]], [[Gottlob Frege|Frege]], [[Richard Dedekind|Dedekind]] und anderen geprägte „naive“ {{Menge}}begriff  führt zu einer [[Antinomie]].  
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Russell definiert die '''Russellklasse''' – wie diese {{Klasse}} heute noch genannt wird – als die '''Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst enthalten''' (damals hat man noch   
Russell definiert die '''Russellklasse''' – wie diese {{Klasse}} heute noch genannt wird – als die '''Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst enthalten''' (damals hat man noch   

Version vom 30. Mai 2019, 10:23 Uhr

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Im Jahr 1901 entdeckten Bertrand Russell und Ernst Zermelo unabhängig voneinander, dass ein naiver Mengenbegriff es ermöglicht, widerspruchsvolle „Mengen“ zu definieren, die nicht existieren können. Diese Entdeckung führte zur Grundlagenkrise der Mathematik.[1][2]

Eine derartige „Menge“ ist die sogenannte Russellklasse $ \mathcal R := \{x|x \notin x\} $. Sie definiert der „Menge“ aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten. Als Menge kann sie nicht existieren, da nicht geklärt werden kann, ob $ \mathcal R $ sich selbst enthält oder nicht.

Um zu bestimmen, ob $ \mathcal R $ ein Element $ a $ enthält, d. h. ob $ a \in \mathcal R $ gilt, muss man $ a $ als Wert für $ x $ in die Definition einsetzen. Daraus leitet sich folgende Bedingung ab:

$ a \in \mathcal R \Leftrightarrow a \notin a $

Um zu bestimmen, ob $ \mathcal R $ sich selbst enthält, d. h. ob $ \mathcal R \in \mathcal R $ gilt, muss man also $ \mathcal R $ als Wert für $ x $ in die Definition einsetzen und erhält damit folgenden Widerspruch:

$ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R $

$ \mathcal R $ enthält sich genau dann, wenn sich $ \mathcal R $ nicht enthält

Informelle Beschreibung der Russellschen Antinomie

Der von Bolzano, Frege, Dedekind und anderen geprägte „naive“ Mengebegriff führt zu einer Antinomie. Dieses logische Paradoxon wurde um 1901 unabhängig voneinander von Bertrand Russell und Ernst Zermelo im Axiomensystem von Frege[3] entdeckt.[1][2] Russell schrieb seine Entdeckung am 16. Juni 1902 an Frege.[4]

Russell definiert die Russellklasse – wie diese Klasse heute noch genannt wird – als die Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst enthalten (damals hat man noch keinen Unterschied zwischen Klassen und Mengen gemacht; diese Unterscheidung wurde erst später gemacht, um die Russellsche Antinomie zu vermeiden):

bilden,

da 1 und {1,2,3} auf unterschiedlichen Stufen liegen. Diese Probleme kann man lösen, wenn man dafür sorgt, dass jede Stufe nicht nur die Elemente der Potenzmenge der Vorgängerstufe enthält, sondern auch alle Elemente der Vorgängerstufe selbst.

Stufe 0: 0, 1, 2, ... (irgendwelche Grundelemente, die keine Mengen sind)
Stufe 1: 0, 1, 2, ..., {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ...
Stufe 2: 0, 1, 2, ..., {}, {0}, {1}, ..., {0,1}, {0,2}, ..., {{}}, {{}, 0}, {{}, 1}, ..., {{}, {0}}, {{}, 0, {0}}, ..., ...
Stufe 3: ...

Diese Ebenenstruktur wird Kumulative Typhierarchie) genannt.[9] In beiden Fällen kann eine Menge $ n $-ter Stufe kann nur Mengen aus Stufen $ m $ kleiner $ n $ enthalten. Damit gibt es keine Mengen, die sich selbst enthalten (weil ja jede Menge derselben Stufe angehört wie sie selbst). Es gibt also keine „Menge aller Mengen“ und auch keine „Russellmenge“.

Klassen

Die modernere Klassenlehre verhindert die Definition von $ \mathcal{R} $ nicht vollständig. Sie verhindert allerdings, dass eine Menge $ \mathcal{R} $ definiert werden kann. $ \mathcal{R} $ wird hier als Unmenge oder echte Klasse bezeichnet.

Man nennt eine „Zusammenfassung von bestimmten Objekten unserer Anschauung und unseres Denkens“ zunächst einmal Klasse und nicht Menge. (Man beachte, dass zu Zeiten von Cantor, Russell und Co, die Begriffe Klasse und Menge noch synonymisch benutzt wurden.) Der wichtigste Unterschied zu Cantors Definition ist, dass man nicht von jeder Klasse fordert, ebenfalls ein solches „Objekt unserer Anschauung und unseres Denkens“ zu sein, das in irgendwelchen Zusammenfassungen enthalten sein kann. Das heißt, es kann Klassen geben, die kein Element irgendeiner anderen Klasse sind, zum Beispiel, weil sie einfach „zu groß“ sind. Im Gegensatz zu Cantors Zeiten unterscheidet man daher heute strikt zwischen „Mengen“ und „echten Klassen“ :

Eine Klasse heißt Menge, genau dann, wenn sie Element mindestens einer beliebigen Klasse ist.

Anderenfalls heißt sie echte Klasse oder Unmenge.

In der kumulativen Typhierarchie ist eine Menge ein Element, das auf irgendeiner Stufe (und damit ebenfalls auf allen darüber liegende Stufen) liegt. Die erste Stufe, auf der eine Menge zu liegen kommt, heißt definierende Stufe. Eine Unmenge ist dagegen eine Klasse, die kein Element einer anderen Klasse ist und für die es daher auch keine definierende Stufe gibt. Für die Elemente einer Unmenge gibt es dagegen schon definierende Stufen. Es gibt allerdings keine größte dieser Stufen. Das heißt, für jedes Element einer Unmenge gibt es beliebig viele weitere Elemente der Unmenge, deren definierenden Stufen oberhalb der definierenden Stufe dieses Elements liegt.

Beispiele für Unmengen sind die Allklasse, d.h. die Klasse, die alle Mengen enthält (aber nicht alle Klassen!), sowie die Russellklasse, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Die Russellklasse enthält sich nicht selbst, da sie die Bedingung „$ \mathcal{R} $ ist eine Menge“ nicht erfüllen kann (sonst ergäbe sich sofort die Russellsche Antinomie):

$ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \mbox{ ist eine Menge} \wedge \mathcal R \notin \mathcal R $

Wenn $ R \mbox{ ist eine Menge} $ gelten würde, ergäbe sich der Widerspruch $ \mathcal R \in \mathcal R \Leftrightarrow \mathcal R \notin \mathcal R $.

Also gilt $ \mathcal R $ ist keine Menge, sondern eine Unmenge und damit gilt (beweisbar!) $ \mathcal R \notin \mathcal R $, da eine Unmenge überhaupt kein Element irgendeiner Menge ist.

Es gibt noch Unmengen von weiteren Unmengen. :-)

Die „Klassenlehre“ hat sich bisher als sehr stabil erwiesen. Es wurden bislang keine weiteren Antinomien entdeckt und daher geht man davon aus, dass damit eine widerspruchsfreie Mengenlehre definiert wurde. Leider beweist Kurt Gödel mit seinem zweiten Unvollständigkeitssatz unter anderem auch, dass man die Widerspruchsfreiheit der zugehörigen Axiome der Mengenlehre nicht nachweisen kann.[10][11] Mit ein wenig Unsicherheit bezüglich dieser Definition müssen wir also bis in alle Zeiten leben. Vielleicht finden Sie ja eine neue Antinomie, die in den aktuellen Mengenlehre-Axiomensystemen enthalten ist. (Allerdings sollten Sie nicht Ihre Zeit damit verschwenden, da die Erfolgsaussichten doch sehr gering sind.)

Quellen

  1. 1,0 1,1 Ebbinghaus (2015): Heinz-Dieter Ebbinghaus; Ernst Zermelo – An Approach to His Life and Work; Reihe: Hochschultaschenbuch; Auflage: 2; Verlag: Springer-Verlag; Adresse: Berlin, Heidelberg; ISBN: 978-3-662-47996-4; 2015; Quellengüte: 5 (Buch)
  2. 2,0 2,1 Irvine, Deutsch (2014): Andrew David Irvine und Harry Deutsch; Russell's Paradox; Hrsg.: Edward N. Zalta; Reihe: The Stanford Encyclopedia of Philosophy; Auflage: Winter 2014 Edition; Hochschule: Stanford University; http://plato.stanford.edu/archives/win2014/entries/russell-paradox/; 2014; Quellengüte: 3 (Web)
  3. Frege (1893): Gottlob Frege; Grundgesetze der Arithmetik; Band: I; Verlag: Verlag Hermann Pohle; Adresse: Jena; Web-Link 0, Web-Link 1, Web-Link 2, Web-Link 3; 1893; Quellengüte: 5 (Buch)
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 Gabriel et al. (1980): Gottlob Frege; Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges; Hrsg.: Gottfried Gabriel, Friedrich Kambartel und Christian Thiel; Verlag: Meiner Felix Verlag; ISBN: 3787304827; Web-Link; 1980; Quellengüte: 5 (Buch), S. 59f, Brief von Russell an Frege vom 16. Juni 1902
  5. Frege (1903): Gottlob Frege; Grundgesetze der Arithmetik; Band: II; Verlag: Verlag Hermann Pohle; Adresse: Jena; Web-Link 0, Web-Link 1; 1903; Quellengüte: 5 (Buch), S. 253
  6. Frege (1893), S. VII
  7. Russell (1918): Bertrand Russell; The Philosophy of Logical Atomism; in: The Monist; Web-Link; 1918, 1919; Quellengüte: 5 (Artikel), S. 228
  8. Brief von Cantor an Dedekind vom 30. August 1899, Zermelo (1932): Georg Cantor; Georg Cantor: Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts – Mit erläuternden Anmerkungen sowie mit Ergänzungen aus dem Briefwechsel Cantor-Dedekind; Hrsg.: Ernst Zermelo; Auflage: 1; Verlag: Springer-Verlag; Adresse: Berlin; ISBN: 978-3662002544; Web-Link; 1932; Quellengüte: 5 (Buch), S. 448
  9. Felscher (1978): W. Felscher; Naive Mengen und abstrakte Zahlen; Band: 1; Verlag: BI-Wissenschaftsverlag; Adresse: Mannheim; ISBN: 3-411-01538-1; 1978; Quellengüte: 5 (Buch)
  10. Gödel (1931): Kurt Gödel; Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I; in: Monatshefte für Mathematik und Physik; Band: 38; Nummer: 1; Seite(n): 173-198; Verlag: Springer-Verlag GmbH; Adresse: Wien; Web-Link; 1931; Quellengüte: 5 (Artikel)
  11. Schwichtenberg (2009): Helmut Schwichtenberg; Mathematical Logic; Hochschule: Ludwig-Maximilians-Universität; Adresse: München; Web-Link; 2009; Quellengüte: 5 (Skript)

Siehe auch